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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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hielt Ausschau. Der Sturm tobte noch immer, aber nicht mehr ganz so blindwütig. Die Sensoren sagten, dass der Regen, der den Transporter peitschte, so heiß wie Dampf war.
    Ich erzählte Turk von meinem Traum und was er bedeutete. Dass ich es leid war, so zu tun, als wäre ich Allison. Dass ich keinen Namen mehr hatte, der zu mir passte. Dass ich auf einem menschenleeren Planeten sterben würde und niemand je wissen würde, wer ich gewesen bin.
    »Ich weiß, wer du bist«, sagte er.
    Wir saßen auf einer Bank gegenüber der Fensterwand. Er hatte den Arm um meine Schulter gelegt und hielt mich, bis ich mich beruhigt hatte.
    Und dann erzählte er mir, was vor unserer Flucht in Vox-Core geschehen war. Dass er mit Oscar gesprochen hatte und durch Oscar mit dem Coryphaeus. Dass er etwas von sich preisgegeben hatte.
    »Was?« Ich glaubte die Antwort zu kennen. Ich dachte an etwas, dem er auswich, seit wir ihn aus der äquatorianischen Wüste geborgen hatten – jene erschreckende und zwangsläufige Wahrheit über seine Person.
    Doch er erzählte mir etwas ganz anderes. Er erzählte mir, wie er jemanden getötet hatte, damals auf der lebendigen Erde, als er noch keine zwanzig gewesen war. Er sprach hölzern und gehemmt, mit abgewandtem Gesicht und geballten Fäusten. Ich hörte ihm geduldig zu.
    Vielleicht wollte er gar nicht, dass ich etwas dazu sagte. Vielleicht hätte ich ihm mehr geholfen, wenn ich den Mund gehalten hätte. Aber unsere Zukunft schien wie abgeschnitten und ich wollte nicht, dass etwas so Wichtiges unausgesprochen blieb.
    Und so, nachdem er sich alles von der Seele geredet hatte, sagte ich: »Darf ich dir auch etwas erzählen?«
    »Natürlich.«
    »Eine Allison-Geschichte. Sie ist auch damals auf der alten Erde passiert. Sonst hat sie aber nichts mit deiner Geschichte gemein. Es geht um etwas, das sie lange mit sich herumgetragen hat.«
    Er nickte, wartete.
    »Allisons Vater war als junger Mann Soldat gewesen. In den Jahren vor dem Spin hatte er in Übersee gedient. Er war vierzig, als Allison geboren wurde. An ihrem zehnten Geburtstag machte er ihr ein Geschenk – ein Ölbild in einem billigen Holzrahmen. Sie war enttäuscht, als sie es auspackte. Wie kam er nur darauf, sie könne sich ein amateurhaftes Porträt einer Frau wünschen, die ein Baby im Arm hielt? Doch dann sagte er ihr, fast verschämt, dass er es vor ein paar Jahren nachts in seinem Arbeitszimmer selbst gemalt hatte. Die Frau sei ihre Mutter, und das Kind sei sie selbst. Allison war verwirrt, weil sie bei ihrem Vater nie eine künstlerische Ader bemerkt hatte – er führte ein Schuhgeschäft in einem Einkaufszentrum, und sie hatte ihn nie über Literatur oder Kunst sprechen hören. Aber er sagte, sie sei das Beste, was ihm je passiert sei, und er habe dieses Gefühl irgendwie festhalten wollen und deshalb dieses Bild gemalt. Jetzt solle sie es haben. Allison fand, dass es doch ein ganz schönes Geschenk war, ja, vielleicht das schönste, das sie jemals bekommen hatte. Acht Jahre später erkrankte ihr Vater an Lungenkrebs – kein Wunder: Er hatte eine Packung Zigaretten pro Tag geraucht und schon als Zwölfjähriger damit angefangen. Ein paar Monate lang versuchte er sich nichts anmerken zu lassen. Aber er wurde immer schwächer und verbrachte schließlich die meiste Zeit im Bett. Als es Allisons Mutter zu schwerfiel, ihn zu versorgen – zu füttern, zu waschen, zu wickeln –, musste er in ein Hospiz, und diesmal, begriff Allison, würde er nicht mehr nach Hause kommen. Er wurde palliativ versorgt, was im Grunde eine Art Sterbehilfe war. Sie gaben ihm Schmerzmittel, jeden Tag mehr, aber er blieb klar bei Verstand, obwohl er viel weinte und die Ärzte meinten, er sei ›emotional labil‹. Und eines Tages, als Allison zu Besuch war, bat er sie, ihm das Bild zu bringen. Er wollte es sehen, sich die alten Zeiten ins Gedächtnis rufen. Aber das ging nicht – sie hatte das Bild nicht mehr. Anfangs hatte sie es sich über das Bett gehängt, doch irgendwann war es ihr peinlich geworden – es kam ihr laienhaft und sentimental vor, und sie wollte nicht, dass ihre Freunde es sahen. Also stellte sie es in den Schrank. Falls es ihrem Vater aufgefallen war, hatte er jedenfalls nie etwas gesagt. Dann eines Tages, als sie ihr Zimmer ausmistete, legte sie das Bild zu den Puppen und Spielsachen und dem ganzen Kinderkram, den sie nie mehr anrühren würde, und trug den Karton als Spende zum Goodwill Store. Sie brachte es aber nicht fertig, ihm die

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