Vortex: Roman (German Edition)
Wattmore widmete sich wieder ihrem Monitor.
Sandra ging in ihr Büro und meldete einen Anruf bei Congreve an. Arthur Congreve war ihr Vorgesetzter; ihm unterstand der gesamte Aufnahmestab. Sandra mochte ihn nicht – sie fand ihn abweisend, fachlich indifferent und viel zu sehr damit beschäftigt, Statistiken zu produzieren, die die Budgetausschüsse beeindruckten. Letztes Jahr hatte man Congreve in dieses Amt befördert, und seither hatten zwei hervorragende Aufnahmeärzte lieber gekündigt, als seine absurden Aufnahmequoten zu erfüllen. Warum hatte er sich, ohne ihr etwas zu sagen, die Mather-Akte gegriffen? Sein Radar sprach gewöhnlich nicht auf irgendwelche Einzelfälle an.
Congreve hob ab. »Was gibt’s, Sandra? Ich bin gerade in Trakt B, auf dem Sprung in ein Meeting. Machen wir’s also schnell.«
»Schwester Wattmore sagt, Sie hätten die Mather-Akte mitgenommen.«
»Ja. Wattmore – mir war doch, als hätte ich ihre runden Äuglein aufleuchten sehen … Tut mir leid, dass ich Sie nicht vorgewarnt habe. Es ist so, dass wir einen neuen Kollegen in der Aufnahme haben, Dr. Abe Fein – ich werde ihn bei der nächsten Personalversammlung vorstellen –, und ich dachte, ich sollte ihn für den Anfang mit einem … nun ja, sicheren Fall betrauen. Mather ist der unstrittigste Kandidat, den wir zurzeit haben, und ich wollte den neuen Kollegen nicht gleich mit einem feindseligen Subjekt konfrontieren. Keine Sorge, Sandra, Fein bekommt keinen Freibrief.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir einstellen.«
»Schauen Sie in Ihre Memos. Fein hat sein Praktikum am Baylor in Dallas absolviert – sehr vielversprechend. Und wie gesagt, ich lege ihn an die Kette, bis er weiß, wie hier der Hase läuft.«
»Aber ich habe bereits die Präliminarien mit Orrin Mather besprochen. Er vertraut mir ein wenig …«
»Ich gehe davon aus, dass alles Wichtige in der Akte steht. Sonst noch etwas, Sandra? Ich will nicht unhöflich sein, aber die Leute warten auf mich.«
Sandra war klar, dass Insistieren zwecklos war. Abgesehen von seinem exzellenten Abschluss, hatte das Direktorium Congreve wegen seiner Führungsqualitäten eingestellt. In seinen Augen waren die Aufnahmeärzte nichts weiter als Hilfskräfte. »Nein«, sagte sie, »schon gut.«
»Okay. Reden wir später.«
Drohung oder Versprechen?
Sandra setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie war natürlich enttäuscht – enttäuscht und verärgert über Congreve, weil er in ihrer Arbeit herumfuhrwerkte.
Sie ging in Gedanken noch einmal die Akte von Orrin Mather durch. Mit keinem Wort hatte sie Officer Boses Interesse an dem Fall erwähnt; sie hatte Bose Diskretion versprochen. War dieses Versprechen unter den neuen Umständen noch bindend? Ihr Berufsethos verlangte, Congreve (oder den neuen Kollegen, diesen Dr. Fein) über alles und jedes in Kenntnis zu setzen, was für die Evaluation relevant sein konnte. Aber Aufnahme-Evaluationen nahmen eine ganze Woche in Anspruch, da musste sie nicht jetzt schon alles offenlegen. Zumindest nicht, bis sie besser abschätzen konnte, warum Bose an dem Fall so interessiert war und ob Orrin Mather das Dokument, das sie gelesen hatte, tatsächlich verfasst hatte. Genau diese Fragen musste sie Bose stellen, und zwar so schnell wie möglich.
Und was Orrin betraf – es sprach nichts dagegen, ihm einen freundschaftlichen Besuch abzustatten, oder? Auch wenn er nicht mehr ihr Patient war.
Nicht-gewalttätige Patienten, die auf ihre Beurteilung warteten, wurden ermutigt, sich im überwachten Aufenthaltsraum unter die Leute zu mischen, aber Orrin war nicht der gesellige Typ. Sandra ging davon aus, dass er allein auf seinem Zimmer war, was sich als richtig erwies. Mit dem Rücken zum Fenster saß er wie ein magerer Buddha auf der Matratze und starrte an die Wand. Die Zimmer waren eigentlich ganz nett, wenn man bereit war zu übersehen, was sie zu Gefängniszellen machte: die bruchsicheren Fenster, das auffällige Fehlen von Haken, Aufhängevorrichtungen und scharfen Kanten. Orrins Raum war vor Kurzem frisch gestrichen worden, um die obszönen Graffiti zu verbergen, die frühere Insassen hinterlassen hatten.
Orrin lächelte, als er sie sah. Eine treuherzige Miene, die keine Regung zurückhielt. Großer Kopf, hohe Wangenknochen, freundliche, aber zu weit geöffnete Augen. Er sah aus wie jemand, den man leicht hinters Licht führen konnte. »Hallo, Dr. Cole! Man hat mir gesagt, ich würde Sie nicht wiedersehen.«
»Ein Kollege wurde mit deinem Fall
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