Vortex: Roman (German Edition)
waren so genau, dass sie uns über die Meere etlicher Planeten getragen haben. Und schließlich zur Erde.«
»Einem toten Planeten.«
Oscar lächelte. Er hatte ein Detail für sich behalten – wie ein Bühnenmagier, der den richtigen Moment abwartet, um eine Papierblume aus dem Ärmel zu ziehen. »Nicht ganz tot. Wir haben neues Material aus der Antarktis. Hier, sehen Sie.«
Er zeigte mir eine weitere Videosequenz. Die Drohne flog in der oberen Troposphäre, und auf den ersten Blick schienen die Aufnahmen wieder nur die typische Wüste zu zeigen – Land, das zu meiner Zeit unter Eis gelegen hatte. Es hätten Felsblöcke oder Kieselsteine sein können; der Maßstab war in Ziffern angegeben, die ich nicht lesen konnte. Doch in der Mitte des Bildes war ganz klein eine symmetrische Struktur zu erkennen, die immer deutlicher wurde, je mehr die Drohne heranzoomte. Ja, da war etwas Künstliches. Dunstverhangene Rechtecke (quadratische und nicht-quadratische) in fahlen Pastellfarben. Einige von diesen Objekten, sagte Oscar, hätten beinahe die Größe von Vox-Core. Das seien keine Ruinen oder verlassenen Gebäude, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Jetzt sah man, dass einige der Bauwerke lange, gerade Spuren im antarktischen Sand hinterlassen hatten. Sie bewegten sich.
»Wir glauben, dass es sich hier um Erzeugnisse der Hy pothetischen handelt«, sagte Oscar beinah salbungsvoll.
Ja, vermutlich hatte er recht. Diese Strukturen sahen nicht danach aus, als seien sie von Menschenhand geschaffen … Plötzlich verblasste das Bild zu einem statischen Weiß. Die Sensoren der Drohne hätten versagt, erklärte Oscar. Man hätte weitere von ihnen auf dieselbe Gegend angesetzt, aber auch sie wären ausgefallen. Er interpretierte diese Ausfälle allerdings optimistisch: »Die Hypothetischen sind immer noch auf der Erde. Und sie haben die Präsenz unbemannter Vehikel bemerkt und darauf reagiert. Was bedeutet – ich halte diese Schlussfolgerung für unausweichlich –, dass sie uns beobachten.« Er setzte ein trotziges Lächeln auf. »Sie wissen, dass wir kommen, Mr. Findley. Und ich bin fest davon überzeugt, dass sie uns erwarten.«
11
SANDRA UND BOSE
Die Einrichtung, in der Sandras Bruder Kyle Cole lebte, hieß »Live Oaks Polycare Residential Complex« und lag auf dem weitläufigen Grundstück einer ehemaligen Ranch. Ganz in der Nähe gab es einen Bach – und tatsächlich einen Hain aus Lebenseichen.
Als sie die ersten Schritte unternommen hatte, um Kyle hier einweisen zu lassen, hatte sie aus lauter Neugier recherchiert, warum Lebenseichen so hießen, wie sie hießen. Die Antwort war recht banal: Sie hießen so, weil sie immergrün waren.
Banal oder nicht, es war zu einer Art Ritual geworden, mit Kyle dorthin zu gehen, vorausgesetzt das Wetter spielte mit. Der größte Teil der Tagesschicht kannte Sandra inzwischen. »Wieder so ein brütend heißer Tag«, sagte die diensthabende Schwester und packte mit an, als Sandra ihrem Bruder aus dem Bett in den Rollstuhl half. »Aber Kyle scheint das warme Wetter zu lieben.«
»Er liebt den Schatten der Bäume.«
Das war natürlich nur eine Vermutung; Kyle hatte noch keine Vorliebe für irgendetwas zu erkennen gegeben. Er konnte nicht gehen, war inkontinent und hatte das Sprechvermögen verloren. Wenn er sich schlecht fühlte, verzog er das Gesicht und stieß dabei Laute aus, die an ein Käuzchen erinnerten. War er glücklich – oder zumindest nicht unglücklich –, zog er eine Grimasse, die Zähne und Zahnfleisch entblößte: das Lächeln eines Tieres. Die Glückslaute waren weiche, tief aus der Kehle kommende Seufzer.
Heute schien er sich über Sandra zu freuen. Er wandte ihr das Gesicht zu, während sie ihn den gepflasterten Weg hinunter und quer über den grünen Rasen zu den Lebenseichen rollte. Die Schwester hatte ihm eine Baseballkappe aufgesetzt, damit ihm die Sonne nicht in die Augen schien, doch sie drohte herunterzufallen, so sehr verdrehte er den Hals. Sandra rückte sie wieder zurecht.
Zwischen den Bäumen stand ein Picknicktisch, der allerdings eher für Besucher als für die Patienten gedacht war, von denen die wenigsten gehfähig waren. Heute war niemand außer ihnen dort. Der Schatten und die kühle Luft, die vom Bach aufzusteigen schien, machten die Hitze erträglich, beinahe angenehm. Die Eichenblätter zitterten in der sanften Brise und filterten das Licht.
Kyle war fünf Jahre älter als Sandra. Vor seinem »Unfall«, wie es die Ärzte nannten,
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