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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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Shrimps weitergezogen, weil hier nichts mehr zu holen war.
    Der Himmel war ein düsteres Blau. Wie am Tag zuvor stahlen sich Blumenkohlwolken an den Horizont, brachten aber keine Erleichterung. Als Sandra die Wagentür öffnete, schlug ihr ein Schwall glühend heißer, nach Kunststoff stinkender Luft entgegen. Sie blieb eine Weile stehen und ließ die schwache Brise ins Wageninnere.
    Als sie sich dann hinter das Steuer setzte, fiel ihr ein, dass sie gar kein Ziel hatte. Sollte sie Bose anrufen? Aber sie musste immer noch daran denken, was er ihr heute früh erzählt hatte, kurz bevor sie seine Wohnung verlassen hatte. Ich denke, du musst das über mich wissen, ehe wir auch nur einen Schritt weiter gehen … Nein, vor allem brauchte sie etwas Zeit zum Nachdenken.
    Und so tat sie, was sie fast immer tat, wenn sie unverhofft freie Zeit und etwas auf dem Herzen hatte: Sie fuhr nach Live Oaks hinaus und besuchte ihren Bruder Kyle.

10
    TURK
    1.
    Das Gespräch mit Allison ließ mich mit unzähligen Fragen zurück, doch die wichtigste davon war: Wie gut konnte ich lügen?
    Im Laufe meines Lebens hatte ich ziemlich viele Menschen belogen, aus schlechten und aus guten Gründen. Es gab Wahrheiten über mich, die ich mit niemandem teilen wollte, und oft genug habe ich sie schöngeredet. Aber ich hatte mich deshalb nie als Lügner betrachtet. Umso bedauerlicher war es, dass ich jetzt einer werden musste: die Lüge, die ich in jedem wachen Augenblick und auch im Schlaf würde inszenieren müssen, war Dreh- und Angelpunkt unserer Zukunft.
    Vox näherte sich der Antarktis bemerkenswert schnell für eine Inselgruppe, die mit Millionen von Menschen bevölkert war. Zwei weitere Male fuhr ich mit Allison auf die hohen Türme von Vox-Core, um zu besprechen, was wir unten nicht besprechen konnten, und jedes Mal bot sich das gleiche Bild: ein Ödland, das durch ein fahles Meer pflügte. Die Tage wurden länger – in diesen Breiten war gerade Sommer –, aber die Sonne umklammerte den Horizont, als habe sie Angst loszulassen. Vox war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das einzige noch bevölkerte menschliche Habitat auf der Erde. Wir sprachen nicht darüber, aber vielleicht war das Wissen um diese Wahrheit Teil dessen, was uns einander näherbrachte.
    Ich machte mich inzwischen mit den Verkehrswegen und Ebenen der Stadt vertraut. Die Bewohner von Vox-Core hatten eine merkwürdige Art, öffentliche und private Räumlichkeiten zu benennen, und so prägte ich mir die Symbole ein, die Wohnhäuser von Wohnheimen und Wohnheime von Begegnungsstätten unterschieden. Ja, ich schnappte sogar ein paar Wendungen der voxischen Sprache auf, genug, um mich in den Geschäften verständlich zu machen; wollte ich allerdings etwas kaufen – etwas Essbares oder eine dieser kupfernen Halsketten, mit denen sich die voxischen Männer schmückten –, brauchte ich Oscar, um das »Entgelt« in Form von Netzwerkzeit zu entrichten. Ich ließ mir einen voxischen Kurzhaarschnitt verpassen und war danach (laut Allison) von Weitem nicht mehr von einem Einheimischen zu unterscheiden – aus der Nähe betrachtet hätte mich natürlich kein Vernetzter mit seinesgleichen verwechselt.
    Aber das traf auf sie ebenso zu: Aus der Ferne besehen war Vox ein Gemeinwesen wie jedes andere, bevölkert mit Männern und Frauen, die ihrer Arbeit nachgingen und ihre Kinder aufzogen und all das taten, was Menschen üblicherweise tun. Mischte man sich jedoch unter die Leute, konnte man das Netzwerk spüren: wie ein Fließen hinter ihren Augen. Begeisterung und Enttäuschung erfassten immer alle – wie ein Wind, der durch ein Weizenfeld fährt. Und dieser unsichtbare Wind wurde von Tag zu Tag böiger und launischer.
    Ich wusste nun, was Allison von mir wollte. Und ich wusste, dass es wohl unsere einzige Chance war. Trotzdem war meine Angst am schwersten zu überspielen: die Angst vor dem, was ich tun musste, und vor dem, was es mich kosten würde.
    2.
    Oscar dachte nicht daran, Allison zu vertrauen. Für ihn war sie eine Verräterin, daraus machte er keinen Hehl. Doch damit unser Plan funktionierte, musste er – als der für uns zuständige Administrator – einem von uns beiden vertrauen, bis zu einem gewissen Grad zumindest. Also machte ich es mir zur Aufgabe, sein Vertrauen zu gewinnen. Fragte ihn um Rat, auch wenn Allison ihre Meinung bereits hinausposaunt hatte. Suchte ihn auf und ließ mir Details aus den Geschichtsbüchern erklären, die ich las. Ich war reserviert

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