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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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hatte Sandra beinahe alle ihre Probleme mit ihm teilen können. Er hatte die Rolle des großen Bruders ernst genommen, auch wenn er immer wieder Witze darüber gemacht hatte. »Ich weiß keinen Rat, Sandy«, hatte er dann gesagt (er war der einzige Mensch, der sie Sandy nennen durfte). »Ich rate dir bestimmt das Falsche.« Aber er hatte ihr immer aufmerksam zugehört – und das war ihr wichtig gewesen.
    Sie redete immer noch gerne mit ihm, obwohl er keine Silbe von dem verstand, was sie sagte. Seine Augen folgten ihren Mundbewegungen, vielleicht weil er den Klang ihrer Stimme mochte, und sie fragte sich, ob, ungeachtet dessen, was die Neurologen sagten, in ihm nicht doch noch Stücke von Erinnerungen trieben, ein letzter Funke von Bewusstsein glimmte.
    »Weißt du, ich bin gerade etwas in Schwierigkeiten«, sagte sie.
    Kyle seufzte, ein Geräusch so sanft und bedeutungslos wie das Rascheln des Laubs.
    Der Spin hatte ihren Vater umgebracht und ihren Bruder zu einem hilflosen Krüppel gemacht.
    Sandra hatte viele Jahre lang immer wieder über das Ereignis nachgedacht und nach einem Grund, einer Ursache gesucht. Nur zu gerne hätte sie ihren Hass auf eine bestimmte Sache oder eine bestimmte Person gerichtet. Doch in diesem Fall war das Fadenkreuz fahrig; es huschte über mögliche Ziele hinweg und weigerte sich innezuhalten. Und letztlich stand hinter all den trivialen Fakten, hinter den Millionen Zufälligkeiten nur eines: der Spin. Der Spin hatte viele Leben verändert und verstümmelt, nicht nur das ihres Bruders, nicht nur ihres.
    Auf groteske Weise war er für Sandras Mutter allerdings gut gewesen. Sandras Mutter war Elektroingenieurin, deren Karriere nicht so recht vorangekommen war – bis der Spin Satellitenkommunikation obsolet machte und einen boomenden Markt für aerostatische Signalübertragung schuf. Sie wurde von einer Firma eingestellt, die dem Aerostat-Magnaten E. D. Lawton gehörte, und konstruierte ein luftgestütztes Antennen-Stabilisierungssystem, das zum industriellen Standard wurde. Sie war sehr gefragt und selten zu Hause.
    Auf Sandras Vater traf das Gegenteil zu. Das anfängliche Chaos, als die Sterne vom Himmel verschwanden, löste eine globale Rezession aus, in der seine Softwarefirma unterging. Das – oder der Spin an sich, seine simple Tatsache – stürzte ihn in eine Depression, die zwar gelegentlich aufklarte, doch nie mehr ganz verschwand. »Er hat vergessen, wie man lächelt«, sagte Sandras Bruder einmal, und Sandra, damals erst zehn Jahre alt, akzeptierte traurig diese Nicht-Erklärung.
    Unsere Generation hat es da leichter, dachte sie jetzt. Wir sind daran gewöhnt , dass die Erde von namenlosen Aliens umzingelt ist, die sogar in der Lage sind, den Zeitfluss zu manipulieren; daran, dass die menschliche Spezies für diese gottähnlichen Wesen zugleich trivial und aus irgendeinem Grund aber auch wichtig war. Wir leben damit, weil wir schon immer damit gelebt haben … Sandra war am Ende des Spins geboren worden, als die Sterne – so versprengt und fremd sie nun anmuteten – wieder am Himmel erschienen waren. Vielleicht hatte sie ihre Existenz ja einem letzten Ausbruch von Optimismus oder Verzweiflung seitens ihrer Eltern zu verdanken: dem bejahenden Akt, ein Kind in eine Welt zu setzen, die Gefahr lief, in Anarchie zu versinken.
    Für ihren Vater hatte die Rückkehr der Sterne allerdings nichts geändert. Es war, als habe tief in ihm ein Zerfallsprozess Wurzeln geschlagen, der unaufhaltsam voranschritt. Sein Zustand wurde nie thematisiert. Sandras Mutter – wenn sie zu Hause war – bemühte sich, den Eindruck von Normalität zu erzeugen, und weil ihr weder Kyle noch Sandra zu widersprechen wagten, war diese Illusion erstaunlich leicht aufrechtzuerhalten. Sandras Vater war häufig krank, er verbrachte viel Zeit im oberen Stockwerk, brauchte viel Ruhe. Das war doch nicht schwer zu verstehen, oder? Es war zwar traurig und beschwerlich, aber das Leben ging weiter. Zumindest bis Sandra eines Tages aus der Schule kam und ihren Vater und ihren Bruder in der Garage fand.
    Es waren noch drei Wochen bis zu ihrem elftem Geburtstag. Sie war überrascht, dass niemand im Haus war. Kyle, der wegen einer Erkältung daheimgeblieben war, hatte seinen Laptop offen auf dem Küchentisch stehen lassen. Auf dem Bildschirm lief ein Film, etwas Lautes mit Flugzeugen und Explosionen. Sie schaltete ab. Dann hörte sie den Automotor. Aber es war nicht der Wagen, mit dem ihre Mutter zur Arbeit fuhr, sondern

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