Vortex: Roman (German Edition)
Schwarzmarkt eine Menge Geld bekommen. Aber es gab Menschen im Umfeld von Wun Ngo Wen, Menschen wie Jason Lawton und seine Freunde, die die marsianische Ethik ernst genommen haben. Früher habe ich Gerüchte gehört: über verschwiegene Gruppen, die die Langlebigkeitsbehandlung so praktizierten, wie die Marsianer es taten. Sie haben nicht daran herumgepfuscht und sie auch nicht verkauft, sondern sie mit anderen geteilt, und zwar so, wie die Marsianer es vorgesehen hatten. Sie sind weise damit umgegangen.« Inzwischen flüsterte Sandra fast. Kyles Augen folgten den Bewegungen ihrer Lippen. »Ich habe damals nicht an diese Gerüchte geglaubt. Aber jetzt denke ich, dass sie stimmten.«
Vor wenigen Stunden hatte Bose ihr gesagt, dass er nicht nur Polizist war. Dass er mit Menschen in Verbindung stand, die die Methoden der Marsianer übernommen hatten. Seine Freunde hassten den Schwarzmarkt, sagte er. Die Polizei war bestechlich, aber sie nicht, denn sie hatten die Langlebigkeitsbehandlung bereits hinter sich – die unverfälschte Version. Und was Bose tat, tat er in ihrem Interesse.
Das erzählte sie ihrem Bruder, ganz leise.
»Nun willst du wahrscheinlich wissen« – er hätte das als großer Bruder ganz bestimmt gewollt – »ob ich ihm vertraue.«
Kyle blinzelte vor sich hin.
»Ja, ich vertraue ihm«, sagte Sandra, und es tat gut, es auszusprechen. »Was mir Sorgen macht, ist das, was ich nicht weiß.«
Wie etwa die Bedeutung von Orrin Mathers Science-Fiction-Geschichte. Wie der Verband um Jack Geddes’ Unterarm. Wie die Narbe, die Bose zu verbergen versucht und bisher noch nicht erklärt hatte.
Für eine Weile schwieg sie. Schließlich kam eine Schwester den Weg herunter. »Höchste Zeit, den Jungen wieder ins Bett zu stecken«, sagte sie. Kyles Baseballkappe war heruntergefallen, was aber im Schatten der Bäume nicht weiter schlimm war. Sandra sah, dass sich sein Haar langsam lichtete. Die Kopfhaut zwischen den blassblonden Strähnen leuchtete babyrosa. Sie hob die Kappe auf und setzte sie ihm sanft auf den Kopf.
Er seufzte.
»Schlaf gut, Kyle«, sagte Sandra. »Ich komme bald wieder.«
Sandra hatte Psychologie studiert, um das Wesen der Verzweiflung zu begreifen, aber was sie wirklich gelernt hatte, war die Pharmakologie der Verzweiflung. Das menschliche Gehirn war leichter mit Medikamenten zu behandeln als zu verstehen. Heutzutage gab es mehr und bessere Antidepressiva als zu Lebzeiten ihres Vaters, und das war gut so, doch die Verzweiflung selbst blieb mysteriös, aus klinischer wie persönlicher Sicht – sie war ebenso sehr eine Heimsuchung wie eine Krankheit.
Die Fahrt zurück nach Houston führte an einer Internierungseinrichtung der State Care vorbei, in der jene Patienten eingewiesen wurden, die entmündigt worden waren. Normalerweise vermied sie es hinzusehen – beim Anblick des Gebäudes bekam sie immer Gewissensbisse –, und glücklicherweise war es auch leicht zu übersehen. Der Eingang war mit einem kleinen Schild versehen; die Einrichtung selbst versteckte sich hinter einer grasbewachsenen Hügelkette (gelb und verdorrt). Vom Highway aus war kaum etwas zu erkennen – bis auf die kleinen Dächer der Wachtürme. Sie war diese Straße schon viele Male gefahren und wusste, was dahinterlag: ein riesiger, zweigeschossiger Bau, umgeben von provisorischen Behausungen, meist blecherne Wohnwagen aus Restbeständen der FEMA (der nationalen Katastrophenhilfe), das alles von einem hohen Drahtzaun umschlossen. Es war eine Gemeinschaft aus Männern (hauptsächlich) und Frauen (ein paar), die sorgfältig voneinander getrennt lebten. Und warteten. Denn das war es, was man dort tat: warten. Auf das Ticket für ein berufliches Wiedereingliederungsprogramm; auf die winzige Chance, in ein Rehazentrum überstellt zu werden; auf Briefe von fernen, desinteressierten Verwandten; auf das Wunder eines neuen Lebens.
Es war ein Dorf aus Draht und Wellblech und chronischer Verzweiflung. Verzweiflung, die mit Medikamen ten behandelt wurde – Sandra selbst hatte wahrscheinlich einige der Rezepte ausgestellt. Und manchmal reichte nicht einmal das; das größte Sicherheitsproblem, so hatte sie gehört, waren die Rauschmittel (Hasch, Schnaps, Opiate, Methamphetamin), die von außen hineingeschmuggelt wurden.
Dem texanischen Parlament lag ein Gesetz zur Teilprivatisierung derartiger Einrichtungen vor – mit der Klausel, dass eine »Arbeitstherapie« es erlauben sollte, halbwegs gesunde Insassen für Straßenarbeiten
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