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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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oder saisonale Farmarbeit auszuleihen, um so den öffentlichen Aufwand für ihre Pflege zu decken. Wenn das Gesetz durchkam, überlegte Sandra, würde es den letzten Rest an Idealismus zunichtemachen, der dem State-Care-Projekt noch anhaftete. Was einmal dafür gedacht war, mittellosen Menschen Beistand und Schutz zu bieten, würde zu einer verbrämten Zwangsarbeit verkommen: Sklaverei mit Haarschnitt und sauberem Hemd.
    Die Wachtürme verschwanden im Rückspiegel, duckten sich hinter die gelben Hügel. Sandra musste daran denken, wie wütend sie auf Congreve gewesen war, der sie von Orrin abgezogen hatte, um eine unerwünschte Diagnose zu verhindern. Aber wie sauber waren ihre eigenen Hände? Wie viele Menschen hatte sie dieser Einrichtung hier überantwortet, nur weil sie einem bestimmten Profil im diagnostischen Handbuch entsprachen? Sie hatte sie vor der Straße bewahrt, vor Ausbeutung und Aids und Unterernährung und Drogen – genug, um ihr Gewissen zu beruhigen. Aber was hatte es diesen Menschen gebracht? Was?
    Es war fast dunkel, als sie zu Hause ankam. Jetzt im September wurden die Tage kürzer, obwohl es heißer war als im August. Sie fuhr den Computer hoch und fand eine E-Mail von Bose im Posteingang – eine weitere Portion von Orrins Notizen.
    Sie hatte gerade das Abendessen in die Mikrowelle geschoben, als das Telefon summte. Sie hob ab, erwartete Bose, aber die Stimme am anderen Ende war ihr unbekannt.
    »Dr. Cole? Sandra Cole?«
    »Ja?« Sie war argwöhnisch – nach allem, was bisher geschehen war.
    »Ich hoffe, der Besuch bei Ihrem Bruder hat sich gelohnt.«
    »Wer spricht da?«
    »Jemand, der es gut mit Ihnen meint.«
    Die Furcht kam aus Sandras Bauch, huschte die Wirbelsäule hinauf und sprang ihr mitten ins Herz. Das ist nicht gut, dachte sie. Aber sie legte nicht auf. Sie hörte zu.

12
    TURK
    1.
    »Das Majestätische an ihnen«, sagte Oscar, »das beinahe unfassbar Majestätische an ihnen ist ihre physische Struktur. Milliarden unterschiedlichster Komponenten, verschwindend kleine bis zu gigantisch großen, über die ganze Galaxis verteilt. Dagegen ist der menschliche Körper ein Nichts, nein, noch weniger als nichts. Und trotzdem sind wir für sie von Bedeutung. Ja, in gewisser Weise sind wir ein wichtiger Bestandteil ihrer Existenz.« Er setzte das selbstgewisse Lächeln eines Mannes auf, der über eine Vision nachdachte. »Und sie wissen, dass wir hier sind. Und sie kommen uns entgegen.«
    Er meinte die Hypothetischen.
    Zum ersten Mal hatte Oscar mich zu sich nach Hause eingeladen. Dass er ein Zuhause oder gar eine Familie haben könnte, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Er hatte beides und wohnte in einem niedrigen, hübschen Haus aus Holz und Stein, zwischen zierlichen, dünnblättrigen Bäumen, tief unten in einer der Steuerbordetagen von Vox-Core. Von seiner Familie waren drei Frauen und zwei Kinder anwesend. Die beiden Töchter waren acht und zehn Jahre alt. Eine der Frauen war seine dauerhafte Partnerin, die beiden anderen waren entferntere Familienmitglieder – die voxische Sprache hatte ein Wort für den Verwandtschaftsgrad, aber Oscar meinte, es sei schwer ins Englische zu übersetzen, also einigten wir uns auf »Cousinen«. Wir aßen zusammen – es gab geschmorten Fisch und Gemüse –, und ich beantwortete höfliche Fragen über das 21. Jahrhundert, dann brachten die Cousinen die lärmenden Mädchen fort. Oscars Partnerin hieß Brion (mit dem üblichen Rattenschwanz an Titeln und Ehrenbezeichnungen); sie hatte bemerkenswert sanfte Augen und leistete uns nach dem Essen noch eine Weile Gesellschaft, bevor sie sich zurückzog. Und dann, während das künstliche Tageslicht dem künstlichen Abend entgegendämmerte, erzählte mir Oscar von den Hypothetischen.
    Doch es war nicht nur Geplauder, und langsam begriff ich, dass Oscar mich eingeladen hatte, um mir eine heikle Frage zu stellen oder ein Ansinnen an mich zu richten.
    »Selbst wenn sie wissen, dass wir hier sind«, sagte ich, »was bedeutet das schon?«
    Er berührte ein Kontrollfeld am Tisch und rief ein zweidimensionales Bild auf, das zwischen uns in der Luft schwebte. Eine neue Luftaufnahme von den Maschinen der Hypothetischen, während sie durch die antarktische Wüste krochen: drei gesichtslose Kästen, die von sechs kleineren Rechtecken begleitet wurden, Objekte so unverschämt simpel wie geometrische Zeichnungen in einem Schulbuch. »Im Laufe der letzten Woche«, sagte er, »haben sie ihre Richtung geändert. Ihr

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