Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson

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schloss die Tür und ging an ihren Schreibtisch zurück. Dann klappte sie ihr Handy auf und wählte Boses Nummer.

16
    TURK
    1.
    Da sie eine Kontamination befürchteten, verordneten sie Oscar und mir eine achttägige Quarantäne. Doch weder unsere Physis noch unsere Psyche gaben Anlass zur Sorge, obwohl das noch lange kein Beweis war, denn hypothetische Nanotechnik war durchaus imstande, sich vollkommen unsichtbar zu machen. Doch wir erwiesen uns als durchweg sauber, und die Probe, die wir mitgebracht hatten – der kristalline Schmetterling in dem quasi-hermetischen Behältnis –, gab keinen Mucks von sich.
    Die Nachricht über das, was im Wilkes-Becken geschehen war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die kollektive Trauer um die getöteten Soldaten, Wissenschaftler und Techniker stand den Ärzten und Oscar ins Gesicht geschrieben. Ich fragte ihn, wie es ist, eine Emotion zu empfinden, die von allen Bürgern der Stadt nicht nur geteilt, sondern noch verstärkt wurde.
    »Es tut furchtbar weh«, erwiderte er. »Aber das ist immer noch besser, als allein zu sein. Nach dem Angriff, der den Coryphaeus lahmgelegt hatte, war es einfach unerträglich – so viele Tote und keine Möglichkeit, die Trauer zu teilen.«
    Uralte Wörterbücher erklärten das lateinische »coryphaeus« aus dem griechischen »koryphaios« (der Chorleiter). Auf Vox bezeichnete »Coryphaeus« die Verschachtelung aus Feedbackschleifen und funktionalen Algorithmen, die den In- und Output aller neuralen Knoten regulierte. Der Coryphaeus war sozusagen das Herz des Netzwerks; Allison hatte ihn »das Parlament aus Liebe und Gewissen« getauft.
    Individueller Gram – oder Schuld oder Liebe – waren fundamentale, charakteristische Bestandteile des menschlichen Lebens, zumindest waren sie das gewesen. Wir hatten sie die längste Zeit unseres Daseins als Spezies ertragen. Ich fand es interessant, diese Last auf eine Weise miteinander zu teilen, die den Schmerz linderte, und vielleicht hatte die Bereitschaft des voxischen Volkes, das Leid aller zu schultern, ja wirklich etwas Bewundernswertes. Aber der Preis für diese Erleichterung war die individuelle Freiheit.
    Ich versuchte Oscar den Eindruck zu vermitteln, dass ich Anteil nahm und wissbegierig war. Auch das war Teil des Plans.
    Gleich nachdem man uns aus der Quarantäne entlassen hatte, ging ich zu der Wohnung, die ich mit Allison teilte. Als die Tür aufglitt, kam sie auf mich zugelaufen und fiel mir schaudernd um den Hals.
    Wir mussten uns alles verkneifen, was wir uns zu sagen hatten, und begnügten uns mit einigen befangenen verbalen Zärtlichkeiten. Wir stellten uns in der Küche eine Mahlzeit zusammen, dann griff Allison (ungeschickt, weil mithilfe einer manuellen Fernsteuerung) auf eine Videoeinspielung zu, dem hiesigen Äquivalent einer Nachrichtensendung. Die Aufnahmen der Expedition liefen in einer Endlosschleife, und zwar in Zeitlupe, sodass man meinen konnte, einem Unterwasserballett beizuwohnen. Die gläsernen Schmetterlinge fielen aus dem Nachthimmel und hefteten sich wie tödliche Schneeflocken an die Soldaten und Zivilisten; die menschlichen Gestalten waren erst starr vor Staunen, dann zuckten und ruckten sie wie betrunkene Marionetten, während sie systematisch umgebracht wurden.
    Nach zwei Zyklen bat ich Allison die Einspielung abzuschalten.
    Bei Tagesanbruch hatte man eine Drohne ausgeschickt, die den Ort der Katastrophe aus sicherem Abstand aufnahm. Doch es gab keinerlei Anzeichen, dass hier etwas Ungewöhnliches passiert war: keine Leichen, keine Gerätschaften, keine kristallinen Insekten. Nichts als die gewaltigen und teilnahmslosen Maschinen der Hypothetischen, die geduldig durch die antarktische Wüste krochen.
    2.
    Bald, hatte Allison oben bei den Docks geflüstert – und das bedeutete, dass ich, unabhängig davon, was im Wilkes-Becken geschehen war, weiter um Oscars Vertrauen werben musste. Ich verabredete mich mit ihm auf einer Plattform, die den zerbombten Sektor von Vox-Core überblickte; ich wollte sehen, wie weit der Wiederaufbau gediehen war. Ich verließ frühzeitig die Wohnung und machte absichtlich einen Umweg.
    Anfangs hatte ich Vox-Core für monolithisch gehalten, doch je besser ich die Stadt kennengelernt hatte, desto mehr war ich von dieser Ansicht abgerückt. Oscar zufolge gab es fünf Elemente voxischer Stadtarchitektur: Terrassen, Zonen, Umfriedungen, Ebenen und Stufen (wobei alle fünf Begriffe präzise definiert waren). Während ich an diesem Morgen zu