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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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Es fühlt sich überhaupt nicht an. Natürlich wurde mein Knoten schon direkt nach der Geburt implantiert, aber ich kann Ihnen schildern, wie es war, als das Netzwerk zusammenbrach, wenn Ihnen das hilft.«
    Ich nickte. Die Terrasse vibrierte unter den Bauarbeiten. Die Luft roch nach Granitstaub.
    »Es ist, als würde man einen Sinn verlieren. Wie eine schleichende Erblindung. Der Netzknoten erleichtert zum Beispiel die Kommunikation. Selbst in einer simplen Unterhaltung hilft uns das limbische Interface, Feinheiten wahrzunehmen und zu deuten, die uns sonst entgehen würden – immer vorausgesetzt, alle Beteiligten haben das Interface. Verzeihen Sie, wenn es verletzend klingt, aber uns kann eine Person ohne Netzknoten stumpfsinnig, ja, manchmal fast schwachsinnig vorkommen.«
    »Eine Person wie ich zum Beispiel.«
    Er lächelte. »Ich habe gelernt, Zugeständnisse zu machen.« Das war Oscars Humor – spitz wie ein Pfeil.
    »Aber irgendwann ergibt sich doch so etwas wie ein emotionaler Konsens. Wie hab ich mir das vorzustellen?«
    »›Emotional‹ ist vielleicht irreführend. Es ist viel subtiler. Zugegeben, ein rationales Urteilsvermögen besitzt der Coryphaeus nicht, aber bedenken Sie, wie sehr bei uns das Unbewusste ins Rationale hineinspielt. Treffen wir beide nicht häufig Entscheidungen auf Basis moralischer Intuition, Mr. Findley? Wir nennen das ›Gewissen‹. Gewissensentscheidungen haben wenig mit der denkenden Vernunft gemein – was nicht heißt, das Gewissen wäre unvernünftig oder unlogisch. Angenommen, Sie sehen, wie ein Mann ertrinkt, und Sie schwimmen hinaus, um ihn zu retten – überlegen Sie da lange? Machen Sie erst eine Risiko-Nutzen-Analyse? Wohl kaum. Sie identifizieren sich instinktiv mit dem Ertrinkenden und handeln, Sie fühlen seine Not als wäre es die Ihre und Sie wollen trotz Ihrer eigenen Ängste diese Not lindern. Und wenn Sie nicht handeln, weil Ihre eigenen Ängste Sie daran hindern, fühlen Sie sich schuldig oder haben ein schlechtes Gewissen. Das ist kein triviales Phänomen. Gewissensentscheidungen haben Regierungen gestürzt und Weltreiche erschüttert – auch zu Ihren Zeiten.«
    »Und dazu brauchten wir weder Netzknoten noch Netzwerke.«
    »Richtig. Aber ebenso richtig ist, dass auf das individuelle Gewissen kein Verlass ist. Ein Individuum kann sich einreden, dass das Richtige das Falsche ist. Oder es weiß wirklich nicht, was richtig oder falsch ist.«
    »Wir sind beide nicht unfehlbar, Oscar.«
    »Aber wenn ich mein Gewissen mit tausend und mehr anderen Gewissen abstimmen kann, wird ein Irrtum unwahrscheinlicher und Selbsttäuschung beinahe unmöglich. Das verdanken wir dem Coryphaeus.«
    Er hatte mir reinen Herzens ein Lehrbuch-Argument für die limbische Demokratie geliefert. Aber meine Frage hatte er nicht beantwortet. »Ich wollte gar nicht wissen, wofür die Vernetzung gut ist. Ich wollte wissen, wie sie sich anfühlt. «
    Er dachte kurz nach. »Nehmen Sie die aktuelle Lebensmittelrationierung. Historisch hat Rationierung immer den Schwarzhandel heraufbeschworen, Hamstern und sogar gewaltsamen Widerstand, richtig? Doch Sie finden nichts dergleichen in Vox. Nicht weil wir Heilige sind, sondern weil unser kollektives Gewissen stark genug ist, um diese Auswüchse zu verhindern. Die Summe unserer besten Instinkte – was nur ein anderer Name für den Coryphaeus ist – weiß, dass die Rationierung unumgänglich und fair ist. Und daher empfinden wir als Individuen, dass die Rationierung unumgänglich und fair ist.«
    »Das klingt trotzdem nach Zwang.«
    »So? Haben Sie jemals bei einem Nachbarn eingebrochen und ihn bestohlen?«
    »Nein.«
    »Haben Sie es gelassen, weil Sie gezwungen wurden oder weil Sie wussten, dass es falsch war? Nur Sie allein kennen die Antwort, doch ich muss annehmen, dass Sie es deshalb nicht getan haben, weil Sie sich sonst zutiefst geschämt hätten – weil Sie nicht mehr in den Spiegel hätten blicken können oder in die Augen Ihrer Mitmenschen. Nun, so würde es mir ergehen, wenn ich mich am Schwarzhandel mit Lebensmitteln beteiligen würde. Und ich bin mir absolut sicher, dass es den anderen genauso erginge.«
    Er ahnte ja nicht, wie oft ich nicht mehr in den Spiegel hatte blicken können, doch es ging mir um etwas anderes: »Was, wenn der Konsens falsch ist? Das Gewissen ist nicht unfehlbar, auch wenn man es multipliziert.«
    »Vielleicht nicht unfehlbar, aber verlässlicher.«
    »Ich bin neu hier, Oscar, und Kritik steht mir nicht zu, aber

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