Vorübergehend tot
dunkelbraunen Locken (Loréal, wenn man Lafayette glauben durfte) waren derart straff und rigide zurückgebunden, daß sie ihr in einem fröhlichen Wasserfall vom Scheitel flossen. Charlsies Bluse war blütenweiß und makellos rein, und die Taschen ihrer Shorts klafften auf, da der Inhalt der Hose selbst zu eng gepackt war. Charlsie trug eine schlichte schwarze Stützstrumpfhose, Keds und künstliche Nägel in einer Art Burgunderrot.
„Meine älteste Tochter ist schwanger! Ab heute dürft Ihr Oma zu mir sagen!“ verkündete sie, und es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie war. Ich umarmte sie stürmisch, wie es in diesen Fällen üblich ist, und Sam klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Wir waren beide ungeheuer froh darüber, daß Charlsie aufgetaucht war.
„Wann kommt denn das Baby?“ wollte ich wissen, und das war genau das Stichwort, auf das meine Kollegin gewartet hatte. Die nächsten fünf Minuten brauchte ich den Mund nicht mehr aufzumachen. Dann gesellte sich Arlene zu uns, deren Make-up nur notdürftig die Knutschflecke an ihrem Hals verdeckte, und Charlsie durfte alles noch einmal von vorne erzählen. Während sie noch munter plapperte, traf mein Blick den Sams. Wir verharrten so einen winzigen Moment lang und wandten dann beide zur gleichen Zeit unseren Blick wieder ab.
Nun trudelten auch langsam die Mittagsgäste ein, was den ganzen Vorfall vergessen machte.
Mittags trank niemand viel; die meisten Gäste beschränkten sich auf ein Glas Bier oder Wein, und ein Großteil trank überhaupt nur Eistee oder Wasser. Mittags kamen Gäste, die gerade in der Nähe gewesen waren, als es Zeit zum Mittagessen wurde, und Stammgäste, die relativ häufig auf die Idee kamen, sie könnten ja mal ins Merlottes gehen, sowie die örtlichen Alkoholiker, für die der Schluck am Mittag unter Umständen bereits der vierte oder fünfte des Tages war.
Ich machte mich daran, Bestellungen aufzunehmen, als mir die Bitte meines Bruders wieder einfiel.
Also hörte ich den ganzen Tag über den Gedanken unserer Gäste zu, und das war ungeheuer anstrengend. Noch nie hatte ich einen ganzen Tag lang gelauscht, noch nie war mein Visier so lange oben geblieben. Es mochte sein, daß das Lauschen jetzt nicht mehr ganz so schmerzhaft war, wie es vorher gewesen war; vielleicht ließ mich das, was ich zu hören bekam, auch in stärkerem Maße einfach kalt. An einem meiner Tische saß Sheriff Dearborn zusammen mit Bürgermeister Sterling Norris, dem alten Freund meiner Oma. Mr. Norris stand auf, um mir die Schulter zu tätscheln, als ich zu den beiden Männern trat, und mir fiel ein, daß ich ihn das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Großmutter gesehen hatte.
„Wie geht es dir, Sookie?“ fragte er freundlich besorgt. Er selbst sah nicht gut aus.
„Mir geht es hervorragend, Mr. Norris, und Ihnen?“
„Ich bin ein alter Mann, Sookie“, erwiderte er mit einem verunsicherten kleinen Lächeln und wartete dann noch nicht einmal meine Proteste ab. „Diese Morde machen mich fertig. Wir haben in Bon Temps keinen Mord mehr gehabt, seit Darryl Mayhew Sue Mayhew erschoß, und an der Sache war nun weiß Gott nichts Rätselhaftes.“
„Das war ... wann? Vor sechs Jahren etwa?“ erkundigte ich mich beim Sheriff, weil ich noch etwas bei den beiden stehen bleiben wollte. Mein Anblick stimmte Mr. Norris traurig, weil er sicher war, daß man meinen Bruder bald wegen des Mordes an Maudette Pickens verhaften würde, und das seiner Meinung nach nur heißen konnte, daß Jason wohl auch meine Großmutter umgebracht hatte. Ich senkte den Kopf, damit der Bürgermeister den Ausdruck in meinen Augen nicht mitbekam.
„Ich glaube, ja“, sagte der Sheriff nachdenklich. „Mal sehen: Ich weiß noch genau, daß ich mich gerade in Schale geworfen hatte, weil wir zu einer Tanzvorführung Jean-Annes gehen wollten ... das war dann also ... ja, du hast recht, Sookie: Das war vor sechs Jahren.“ Der Sheriff nickte wohlwollend. „War Jason heute schon hier?“ fragte er dann ganz beiläufig, als sei ihm die Frage gerade erst in den Sinn gekommen.
„Nein“, erwiderte ich. „Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.“ Der Sheriff bestellte daraufhin einen Eistee und einen Hamburger und dachte an den Tag, an dem er Jason zusammen mit seiner Jean-Anne erwischt hatte; die beiden hatten heftig auf der Ladefläche von Jasons Pick-up herumgemacht.
Oh mein Gott: Weiter dachte der Sheriff, Jean-Anne könne von Glück sagen, daß sie nicht erwürgt
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