Vorübergehend tot
Wetterstationen zu sehen gewesen war. Aber da lag der Wohnwagen, da stand das Auto, da waren die entwurzelten Bäume, und unter all dem hatten die toten Rattrays gelegen. Wie konnte man da zu dem Schluß kommen, etwas anderes als ein Wirbelsturm habe sie umgebracht? Ich nahm an, daß man die Leichen der beiden zur Autopsie in die Stadt geschickt hatte ,und fragte mich, was eine solche Prozedur unter den gegebenen Umständen wohl an Erkenntnissen zu Tage fördern mochte.
Der menschliche Verstand ist schon eine erstaunliche Einrichtung. Sheriff Dearborn wußte bestimmt, daß Vampire ungeheuer stark sind. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie stark: stark genug, um einen Wohnwagen auf den Kopf zu stellen, ihn zu zerschmettern. Das zu verstehen fiel ja selbst mir schwer, und ich wußte ganz genau, daß kein Wirbelsturm durch Four Tracks Corner gefegt war.
Die ganze Kneipe summte förmlich der beiden neuen Todesfälle wegen. Gespräche über den Mord an Maudette waren hinter Spekulationen über Macks und Denises Hinscheiden zurückgetreten. Ein paarmal ertappte ich Sam dabei, wie er mich aus den Augenwinkeln musterte, dachte jedes Mal an die vergangene Nacht und fragte mich, wie viel er wohl wissen mochte. Direkt fragen wollte ich ihn nicht, weil ich ja befürchten mußte, daß er unter Umständen gar nichts mitbekommen hatte. Letzte Nacht waren ein paar Dinge geschehen, die ich mir noch nicht einmal zu meiner eigenen Zufriedenheit erklären konnte. Ich war jedoch so froh darüber, überhaupt noch am Leben zu sein, daß ich ein Nachdenken hierüber lieber aufschob.
Ich hatte noch nie so strahlend gelächelt, während ich die Getränke verteilte, ich war noch nie so rasch mit dem Wechselgeld bei der Hand gewesen, hatte die Bestellungen noch nie so akkurat weitergegeben wie in dieser Nacht. Selbst der gute alte Rene mit seiner buschigen Mähne konnte mich nicht aufhalten, auch wenn er jedes Mal, wenn ich mich dem Tisch näherte, an dem er zusammen mit Hoyt und ein paar anderen alten Kumpanen saß, versuchte, mich in eine seiner langatmigen Unterhaltungen zu verstricken.
Rene spielte von Zeit zu Zeit das exzentrische Mitglied einer alteingesessenen französischstämmigen Familie, schaffte es aber nicht, den dazugehörigen Akzent auch wirklich hinzubekommen. Seine Familie hatte ihrer Herkunft keine besondere Bedeutung beigemessen. Jede der Frauen, die Rene geheiratet hatte, war wild gewesen und hatte nichts anbrennen lassen. Seine kurze Affäre mit Arlene hatte stattgefunden, als meine Freundin noch jung und kinderlos gewesen war und, Wie sie mir einmal gestanden hatte, Dinge getrieben hatte, an die sie sich heute nicht einmal mehr erinnern konnte, ohne daß ihr die Haare zu Berge standen. Arlene war inzwischen erwachsen, was man von Rene allerdings nicht behaupten konnte. Aber sie hatte ihn weiterhin gern, was mich immer wieder erstaunte.
Jeder, der an diesem Abend im Merlottes hockte, war aufgeregt, weil sich in Bon Temps plötzlich mal all diese ungewöhnlichen Dinge ereigneten. Eine Frau war ermordet worden, und niemand wußte, wer es getan hatte; normalerweise ließen sich Morde in Bon Temps rasch aufklären. Ein Ehepaar war gewaltsam umgekommen, weil die Natur verrückt gespielt hatte. Ich schrieb das, was an dem Abend als nächstes geschah, der ganzen Aufgeregtheit zu. Unser Lokal ist eine Nachbarschaftskneipe; hinzu kommen immer ein paar Kunden von auswärts, die regelmäßig in Bon Temps sind, und ich hatte mich noch nie irgendwelcher Aufdringlichkeiten erwehren müssen. An diesem Abend jedoch schob einer der Männer, die am Tisch neben dem Hoyts und Renes saßen, ein schwerer blonder Mann mit einem breiten, roten Gesicht, mir die Hand ins Hosenbein meiner Shorts, als ich einen Krug Bier an seinen Tisch brachte.
Mit so etwas kommt man im Merlottes nicht durch.
Ich wollte ihm gerade mein Tablett auf den Kopf hauen, als ich spürte, wie die Hand wieder entfernt wurde. Außerdem fühlte ich, daß jemand direkt hinter mir stand. Ich wandte den Kopf zur Seite und sah Rene, der von seinem Stuhl aufgesprungen war, ohne daß ich es überhaupt mitbekommen hatte. Ein Blick auf Renes Arm zeigte mir, daß seine Hand die des Blonden fest umklammert hielt und zudrückte. Auf dem roten Gesicht des Blonden zeigten sich noch rötere Flecken.
„Laß los, Mann“, protestierte er. „Ich hab' das doch nicht bös' gemeint.“
„Wer hier arbeitet, wird nicht angegrabscht. So sind die Regeln.“ Rene mag klein und
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