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Vorübergehend tot

Vorübergehend tot

Titel: Vorübergehend tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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ich persönlich immer noch am Rande des Schweigens in das Bill sich mir gegenüber gehüllt hatte und das mir mindestens so tief schien wie ein ganzer See.
    Mrs. Fortenberry stellte Bill den Anwesenden vor, aber ich erinnere mich nicht mehr, was sie genau sagte oder wie sie die Tatsache umging, daß Bill ja nun ein ganz anderes Lebewesen war als wir.
    Dann sprach Bill, und ich stellte zu meiner großen Verwunderung fest, daß er sich für den Vortrag Notizen gemacht hatte. Neben mir beugte Sam sich vor, und sein Blick ruhte unverwandt auf Bills Gesicht.
    „ ... hatten wir keine Decken mehr und sehr wenig zu essen“, schloß Bill ruhig. „Es gab viele Deserteure.“
    Das hörten die Nachkommen nicht gerade gern, aber einige von ihnen nickten zustimmend. Offenbar deckte sich das, was Bill sagte, mit dem, was sie selbst bei ihren Nachforschungen herausgefunden hatten.
    In der ersten Reihe hob nun ein uralter Mann die Hand.
    „Sir, haben Sie vielleicht zufällig meinen Urgroßvater gekannt, Tolliver Humphries?“
    „Ja“, sagte Bill nach kurzem Schweigen. „Tolliver war mein Freund.“
    Einen ganz kleinen Moment lag etwas so Tragisches in seiner Stimme, daß ich die Augen schließen mußte.
    „Wie war er?“ fragte der alte Mann zittrig.
    „Er war tollkühn, und das führte zu seinem Tod“, erwiderte Bill mit einem müden Lächeln. „Er war tapfer. Er hat in seinem Leben nicht einen Cent verdient, den er nicht gleich wieder verschwendet hätte.“
    „Wie starb er? Waren Sie dabei?“
    „Ja, ich war da,“ sagte Bill und wirkte sehr erschöpft. „Ich sah, wie er von einem Scharfschützen aus dem Norden erschossen wurde, in den Wäldern, etwa zwanzig Meilen von hier. Er konnte sich nicht mehr sehr schnell bewegen, denn er hatte lange nichts Richtiges gegessen; wir waren ja alle kurz vorm Verhungern. In den späten Morgenstunden dieses Tages hatte Tolliver gesehen, wie ein Junge aus unserem Regiment angeschossen wurde. Dieser Junge hatte ohne ausreichende Deckung mitten in einem Feld gelegen, als es ihn erwischte. Er war nicht tot, aber schwer verwundet und litt sehr. Aber er war noch in der Lage, uns etwas zuzurufen, und das tat er auch, den ganzen Morgen über. Er rief, wir sollten ihm helfen. Er wußte, er würde sterben, wenn niemand ihm zu Hilfe kam.“
    Im ganzen Raum war es so still, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
    „Er schrie und stöhnte. Ich stand kurz davor, ihm noch eine Kugel zu verpassen, um ihn zum Schweigen zu bringen, denn sich dort hinauszuwagen, um ihn in Sicherheit zu bringen, wäre Selbstmord gewesen, das wußte ich genau. Aber ihn zu töten brachte ich dann doch nicht über mich. Das, so sagte ich mir, wäre Mord, kein Töten wie im Krieg. Später habe ich mir oft gewünscht, ich hätte ihn erschossen. Im Gegensatz zu mir schaffte es Tolliver nämlich nicht, dem Flehen des Jungen kein Gehör zu schenken. Nachdem er es sich zwei Stunden lang angehört hatte, teilte er mir mit, er werde versuchen, den Jungen zu retten. Ich tat mein Bestes, ihn davon abzubringen, ich stritt mich mit ihm, aber Tolliver sagte, Gott wünsche, daß er den Jungen rette. Er sagte, er habe gebetet, während wir dort in den Wäldern lagen.
    Ich sagte zu Tolliver, Gott wolle bestimmt nicht, daß er sein Leben sinnlos aufs Spiel setze, und seine Frau und die Kinder zu Hause würden doch auch beten, nämlich darum, daß er heil nach Hause käme. Aber Tolliver bat mich nur, den Feind abzulenken, während er versuchte, den Jungen zu retten. Er lief auf diese Lichtung, als sei es ein schöner Frühlingstag, der ihn dort erwartete, und als sei er bestens ausgeruht, und er kam auch heil bis zu diesem verletzten Jungen. Aber dann fiel ein Schuß, und Tolliver sank tot zu Boden. Nach einiger Zeit schrie der Junge dann erneut um Hilfe.“
    „Was wurde aus ihm?“ fragte Mrs. Fortenberry, und ihre Stimme klang so leise, wie Mrs. Fortenberrys Stimme überhaupt klingen konnte.
    „Er hat überlebt“, sagte Bill in einem Ton, der mir kalte Schauder über den Rücken jagte. „Er hat den Tag überlebt, und in der Nacht waren wir in der Lage, ihn zu bergen.“
    Irgendwie waren all diese Menschen wieder zum Leben erwacht, als Bill von ihnen erzählte, und für den alten Mann in der ersten Reihe gab es nun eine Erinnerung, die er in seinem Herzen bewegen und wertschätzen konnte, eine Erinnerung, die viel über den Charakter seines Vorfahren aussagte.
    Ich glaube, niemand, der an diesem Abend zur

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