Vorübergehend tot
Meinung nach stimmt es nicht, daß Vampire sich vor religiösen Symbolen fürchten. Aber ich habe ihn nie direkt danach gefragt.“
„Bei den Baptisten hängt ein großes Kreuz“, fuhr meine Oma nachdenklich fort.
„Ich komme heute abend doch zum Vortrag“, sagte ich daraufhin. „Ich gehe mit Sam Merlotte.“
„Mit Sam, deinem Chef?“ Oma war überrascht.
„Ja, Ma'am.“
„Hm. Gut.“ Lächelnd stellte Oma unsere Teller auf den Tisch. Während wir Butterbrote und Obstsalat aßen, versuchte ich, mir über die Kleiderfrage für den heutigen Abend schlüssig zu werden, und Oma wurde immer vergnügter. Sie freute sich auf die Veranstaltung, freute sich ungeheuer darauf, Bill ihren Freundinnen vorstellen zu können, und nach meiner Ankündigung, ich würde in Sams Begleitung kommen, war sie endgültig nicht mehr von dieser Welt, sondern höchstwahrscheinlich irgendwo in der Gegend der Venus. Ihre Enkelin hatte eine richtige Verabredung für diesen Abend, noch dazu mit einem Menschen!
„Wir wollen danach noch ausgehen“, erklärte ich. „Ich komme wohl erst eine Stunde oder so nach Ende der Veranstaltung heim.“ Groß ist die Auswahl an Restaurants, in denen man in Bon Temps Kaffee trinken kann, nicht gerade, und die wenigen vorhandenen Lokale laden nicht wirklich ein, dort stundenlang zu verweilen.
„Laß dir ruhig Zeit, Herzchen.“ Oma hatte sich schon schick gemacht, und nach dem Abendbrot half ich ihr, die Platten mit den Keksen und die riesige Kaffeekanne, die sie für solche Anlässe angeschafft hatte, im Auto zu verstauen. Zu diesem Zweck hatte Oma ihr Auto vor der Hintertür geparkt, was uns einiges Treppensteigen ersparte. Oma war ganz in ihrem Element. Sie lachte und plauderte die ganze Zeit vergnügt. Abende wie diesen liebte sie von ganzem Herzen.
Ich zog mir die Kellnerinnentracht aus und verschwand unter der Dusche. Während ich mich abseifte, grübelte ich weiter über die Kleiderfrage. Ich würde auf keinen Fall schwarz und weiß tragen. Die Farbkombination, die die Kellnerinnen im Merlottes tragen mußten, hing mir schon reichlich zum Halse heraus. Ich rasierte mir schnell die Beine, hatte aber keine Zeit, auch die Haare zu waschen, denn die wären einfach nicht mehr trocken geworden. Gut, daß ich sie mir erst am Vortag gewaschen hatte. Dann stand ich nachdenklich vor meiner offenen Kleiderschranktür. Das weiße Kleid mit den Blumen hatte Sam schon gesehen. Der blaue Jeans-Trägerrock war nicht festlich genug für eine Veranstaltung mit Omas Freundinnen. Letztlich entschied ich mich für eine kurzärmlige bronzefarbene Seidenbluse und eine khakifarbene Hose. Ich besaß braune Lederschuhe und einen braunen Ledergürtel, die gut dazu passen würden. Ich hängte mir eine Kette um den Hals, steckte große goldene Ohrringe in die Ohren und war fertig angezogen, da klingelte auch schon Sam an der Tür, als hätte er den Moment abgepaßt.
Ich öffnete, und einen Augenblick lang standen wir einander etwas befangen gegenüber.
„Ich würde dich gern hereinbitten, aber ich glaube, wir schaffen es gerade noch rechtzeitig ...“
„Ich würde ja gern hereinkommen, aber ich glaube, wir schaffen es gerade ...“
Dann mußten wir beide lachen.
Ich zog die Tür hinter mir zu und schloß ab, während Sam rasch zu seinem Pick-up ging, um mir die Beifahrertür zu öffnen. Ich war froh, eine Hose angezogen zu haben und stellte mir vor, wie es gewesen wäre, hätte ich in einem meiner kurzen Kleidchen in die hohe Fahrerkabine klettern müssen.
„Soll ich von unten nachhelfen?“ fragte Sam hoffnungsvoll.
„Nein, ich glaube, ich schaffe es auch so“, versicherte ich, wobei ich versuchte, mir ein Grinsen zu verkneifen.
Schweigend fuhren wir zum Bürgerhaus, einem Gebäude in dem Teil von Bon Temps, der noch aus der Zeit vor dem Krieg stammt. Das Bürgerhaus selbst war zwar nicht vor dem Krieg erbaut worden, befand sich aber auf einem Gelände, auf dem bereits früher ein Haus gestanden hatte, das dann im Krieg zerstört worden war. Es konnte allerdings niemand mehr genau sagen, was für ein Haus das damals gewesen war.
Die Nachkommen ruhmreicher Toter waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Einige Mitglieder waren bereits uralt und sehr zerbrechlich, andere waren nicht ganz so alt und sehr lebendig. Dazu kamen ein paar Männer und Frauen mittleren Alters. Junge Mitglieder fehlten allerdings gänzlich, eine Tatsache, die meine Oma oft lautstark bedauerte, nicht ohne dabei jeweils
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