Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Bleib im Traum.
Folge ihm. Verlaß ihn nicht!«
»Gebrochener Zweig«, murmelte Reiher. Heftig schüttelte sie den Kopf. »Tod im Westen!
Bärenjäger? Bärenjäger! Komm zurück zu … zu …«
Ihr Körper versteifte sich. Sie keuchte mit weit offenstehendem Mund, die Augen aufgerissen.
»Zurück in… den Traum. Gegangen … mit Bärenjäger. Gegangen …«
Sie bäumte sich auf. Die Zunge quoll aus ihrem Mund, ihre Augen reflektierten Bilder des Grauens.
»Kann nicht… lieben …«
Der Körper der alten Frau erschlaffte in seinen Armen.
Wie betäubt rieb er mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Reiher? Träume. Folge dem Traum!«
Ihre Augen erloschen. Ihr entspanntes Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck.
»Nein…«, flüsterte er in höchster Qual. Liebevoll rüttelte er sie. »Nein, du darfst mich nicht verlassen.«
Gebrochener Zweig jammerte: »Sie ist gegangen! Nein! Ich wußte doch nicht, was ich mit meinem Geschwätz anrichte!«
»Es war nicht deine Schuld, Großmutter«, tröstete er sie. »Bärenjäger hat sie getötet. » Gebrochener Zweig schluckte. «Nein, das ist unmöglich. Tot. Der Mann ist seit Jahren tot… Seit Jahren.«
»Sie hat ihn geliebt.« Er kämpfte gegen die wachsende Kälte, die sich in seinem Innern auszubreiten begann. »Sie erzählte es mir einmal. Man kann nicht träumen und lieben.«
Das Leid überfiel ihn unvermittelt, hüllte ihn ein, stach beißend in seine Augen, brannte in seinem Herzen. Fast besinnungslos brach er in verzweifeltes Schluchzen aus.
KAPITEL 41
Mit gebeugtem Rücken kämpfte sich Tanzende Füchsin durch den aufgewühlten Schnee. Ihr Herz hämmerte hohl. Eine tiefe Leere bemächtigte sich ihrer Seele.
Sie drehte sich um und blickte zurück auf die in einen Nebelschleier gehüllte hochgelegene Stelle, an die sie Kralles leblosen Körper gelegt hatte. Windfrau nutzte diesen Moment der Schwäche aus und schleuderte ihr beißenden Schnee und Kies ins Gesicht.
Tanzende Füchsin zuckte unter der Wucht zusammen und wandte sich um. Schritt für Schritt folgte sie den Spuren, die Singender Wolf und Der der schreit für sie gelegt hatten. Die Markierungen bestanden zumeist aus mehreren aufeinandergestapelten Steinen und waren leicht zu erkennen. Windfraus rauher Atem zerrte an ihrer Rückentrage. Die Bewegung ließ den Tragegurt noch schmerzhafter in ihre Stirn schneiden als sonst.
Ein Lebensabschnitt lag abgeschlossen hinter ihr, bald begraben unter dem endlos wirbelnden Schnee.
Ihr zukünftiges Leben erschien ihr wie ein endloser, ins Nichts führender Pfad, ein ewiges Im-Kreis-Gehen. Immer kehrte sie an ihren Ausgangspunkt zurück. Ihre Seele war nackt und allein.
Sie biß die Zähne zusammen. Ihr Magen brüllte vor Hunger, doch sie achtete nicht darauf. Sie setzte Fuß vor Fuß und prüfte jeden Schritt, um im tückischen Schnee nicht einzubrechen.
Bei Anbruch der Dunkelheit lagerte sie an einer Felsnadel, die den weiteren Weg markierte. Sie legte sich auf die Seite, wickelte sich fest in ihren Mantel und die Decken und streichelte den rauhen Fels.
»Eine Verbindung zu meinem Volk«, flüsterte sie und blinzelte müde. »Ein Beweis, daß es noch eine Zukunft gibt. Ich muß nur weiter den Markierungen folgen.«
Ängstlich starrte sie in den undurchdringlichen Schneesturm hinaus. Nach einer Weile zog sie entschlossen die Decken über den Kopf und schloß die Augen. Sie begann von Der im Licht läuft zu träumen, von seinen sanften Augen, seinen zärtlichen Berührungen. Vielleicht hatte sich Kralle doch geirrt, und er wollte sie noch immer wie früher?
Am nächsten Morgen schielte sie über die Decken in die vom Sturm gepeitschte endlose weiße Wüste und aß den letzten Rest des getrockneten Mammutfleisches. Sie hatte sich das Fleisch in kleine Portionen eingeteilt, aber nun hatte sie gar nichts mehr. Würde der Sturm nie nachlassen?
»Ich komme, Der im Licht läuft.«
Sie stolperte weiter, Schritt für Schritt.
Um die Mittagszeit kam sie vom Weg ab. Die Markierungen waren plötzlich verschwunden. Sie ging zurück, folgte so gut es ging ihren eigenen Spuren, aber nichts sah aus wie vorher. Am Ende ihres Irrwegs angelangt, blickte sie sich suchend um. Irgendwo mußte ein Steinhaufen als Markierung ausgelegt sein, aber sie fand nichts.
Panik erfaßte sie. Wie eine Irrsinnige rannte sie los, glitt aus, stolperte und schlug sich die Schienbeine an einem Felsausläufer auf. Mit letzter Kraft kämpfte
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