Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
noch eine Weile.«
»Warum? Wo ist sie?«
»Nachdem Krähenrufer ihre Seele verfluchte, freundete sie sich mit Kralle an. Die beiden verließen das Lager und lebten eine Zeitlang allein draußen in der Wildnis. Jetzt ist sie auf dem Weg hierher, auf der Flucht vor Rabenjäger. Kralle trennte sich von der Sippe. Sie zog sich zum Sterben zurück.
Füchsin suchte sie. Am nächsten Morgen teilte sie uns mit, sie würde bis zum Ende bei ihrer Freundin bleiben.«
»Aber die Stürme kommen!«
Wieder wollte er davonlaufen, doch Grünes Wasser hielt ihn eisern am Ärmel fest. »Es geht ihr gut.
Sie ist nicht mehr das Mädchen, das du einmal gekannt hast. Das letzte Jahr hat sie hart gemacht wie das Feuer eine gute Speerspitze. Sie findet sich draußen ganz gut allein zurecht. Das Mädchen, das du kanntest, gibt es nicht mehr wie den jungen Mann, den sie einmal angelächelt hat.«
Er blickte aufmerksam in ihr ehrliches Gesicht.
»Vertrau mir. Sie kommt, wann immer sie es für richtig hält.«
»Sie kommt.«
Er sah hinüber zum Horizont. Dort ballten sich drohend dunkle Schneewolken zusammen. Sein Herz klopfte heftig vor Freude und Hoffnung, aber auch Sorge stand in seinem Gesicht.
»Es geht ihr gut«, fügte Grünes Wasser beruhigend hinzu. »Jedenfalls, wenn man bedenkt, daß sie eine Ausgestoßene ist. Aber erwarte nicht von ihr …«
»Ich bestrafe ihn.« Mit der Faust schlug er auf seinen dicken Handschuh. »Ich schwöre, ich zahle es ihm heim.«
»Schhh!« Sie legte einen Finger an die Lippen. »Nicht, Wolfsträumer. Sag so etwas nicht. Nicht jetzt.
Wir brauchen einen starken und weisen Führer. Unser Volk ist bereits zerrissen genug.«
Er straffte den Rücken. Immer mehr Menschen kamen den Berg herauf, schwarze Schatten in der Nacht, gepeinigt von Windfraus gnadenlosem Atem. So viele? Wie sollten die alle satt werden? Seine Zuversicht schmolz wie Schnee in der Sonne. Er mußte mit Reiher sprechen.
Müde ließen sich die Neuankömmlinge am Teichufer in der Nähe von Reihers Höhle nieder. Die heißen Quellen lösten begeistertes Gemurmel aus. Inmitten der Menschen stehend blickte Wolfsträumer suchend um sich, aber er konnte die alte Träumerin nirgends entdecken. Seltsam.
Normalerweise begrüßt sie die Leute, bevor sie so nahe an ihre Höhle herankommen.
Über die Köpfe hinweg sah er zur Höhle hinüber. Das Fell hing bewegungslos vor der Öffnung. Tief in seinem Innern baute sich Angst auf, ein schreckliches Gefühl, als sei das Ende der Welt gekommen.
So schnell er konnte, lief er hinüber. Seine Panik wuchs mit jedem Schritt. Vor dem Höhleneingang blieb er stehen und rief: »Reiher!«
Keine Antwort.
Atemlos rief er noch einmal: »Reiher?« Er glaubte, sein Herz müsse brechen bei dem Gedanken …
Vorsichtig machte er einen Schritt in die dunkle Höhle hinein.
»Wolfsträumer?«
Beim Klang von Gebrochener Zweigs Stimme drehte er sich um. »Wo ist Reiher?«
Aus der Dunkelheit watschelte die Alte auf ihn zu. Eine Weidenwurzel diente ihr als Fackel und warf unheimliche Schatten auf ihr Gesicht. »Da drin. Als du gingst, um nach den Leuten Ausschau zu halten, hatte sie irgend etwas vor. Sie sagte, ich solle sie unbedingt allein lassen, was immer auch geschieht.«
Er nahm ihr die Fackel aus der Hand und hielt sie mit zitternden Fingern fest. Auf alles gefaßt, bückte er sich und betrat die Höhle.
Das flackernde Feuer tauchte die Wände in tanzendes gelbliches Licht.
Reiher lag auf dem Boden und starrte ihn an. Ihre glasigen Augen leuchteten unheimlich im Schein der Fackel. Neben ihr lagen Weidenzweige und Pilze. Die flachen schwarzen Pilzwesen, ausgebreitet auf einem Fuchsfell, glühten gefährlich. Ein tödliches Licht.
Entsetzen packte ihn. Er stieß einen wehklagenden Schrei aus: »Nein … nein, was hast du getan?«
»Traum … Traum, Junge.« Die Worte kamen kaum verständlich über ihre Lippen.
Er ließ sich neben ihr nieder und berührte sanft ihren Arm. »Du bist so kalt.«
Rasch holte er Holz vom Stapel in der Ecke, warf die brennende Fackel ins Feuer und wartete ungeduldig, bis das Feuer hell aufloderte. Mit ein paar trockenen dünnen Stöcken fachte er die Flammen zusätzlich an.
»Komm, setz dich auf. Ich …«
»Kann nicht, Junge. Gift. Kann nicht bewegen. Kann …. nicht fühlen. Träumen, Junge. Schweben.
Nicht… nicht hier.«
Er fiel auf die Knie. Sein Herz litt Qualen, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Bekämpfe sie«, flüsterte er. »Du kannst es. Laß nicht
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