Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
ihr Unbehagen. »Ich habe das Große Eis durchquert.«
Sprachlos fiel Singender Wolf auf die Knie. »Du …«
Wolfsträumer nickte gelassen. »Aber das Volk kann diesen Weg nicht gehen. Es ist zu gefährlich. Ich verlor beide Hunde. Die Durchquerung ist ein einziger Alptraum. Schlimmer, als von Krähenrufer verflucht zu werden.«
Singender Wolf sackte in sich zusammen. Die Erschöpfung machte sich bemerkbar. »Heiliges Volk der Sterne, das nennt man schlechte Nachrichten.«
»Schlecht?« Wolfsträumer zog einen Weidenstock aus dem Holzstapel und stocherte im Feuer herum, daß die Funken stoben.
»Sehr schlecht«, ergänzte Der der schreit. »Du warst drei Monddrehungen weg. In dieser Zeit kamen die Menschen aus vier Lagern zum Überwintern hierher. Dort, wo der Große Fluß in die Ebene fließt, wartet nur Krieg auf sie. Unsere jungen Männer und die Anderen kämpfen unentwegt. Es geht dauernd hin und her. Mal schlagen die einen zu, dann die anderen. Die Alten und die Kinder können unmöglich ständig marschieren. Schon gar nicht während der Langen Finsternis. Deshalb sind sie in dieses friedliche Tal gekommen.«
»Alle bis auf die jungen Männer und Frauen?«
Singender Wolf nickte bekümmert. »Ja. Die jungen Leute finden das neue Leben aufregend und interessant. Es gefällt ihnen.«
Wolfsträumers Augen wurden feucht. »Und wer erzählt ihnen die Winterlegenden? Wie wird das Wissen unseres Volkes weitergegeben, wenn alle auf der Flucht sind oder kämpfen? Wer ernährt die Alten und die Kinder?«
»Nur unser Lager«, antwortete Singender Wolf leise.
Der der schreit seufzte. »Und die Anderen denken nicht an einen Rückzug, wie Rabenjäger versprochen hat. Die Überfälle dauern schon ewig und werden wohl so bald nicht aufhören. Sie kämpfen wahrscheinlich auch die ganze Lange Finsternis über. Kannst du dir das vorstellen? Was ist mit den Seelenessern?«
Singender Wolf fügte hinzu: »Und unsere Vorräte gehen rasch zur Neige.«
»Was ist mit den Vorräten der Anderen? Leiden sie …«
»Sie treiben Handel mit mehreren Lagern im Norden und Westen am Salzwasser. Ihnen mangelt es nicht an Nahrung und neuen Fellen. Ihre Alten und Kranken bringen sie in entlegene Lager, die ebenfalls große Fleischvorräte angelegt haben. Die jungen Männer schicken sie den Fluß entlang nach Süden. Alle tragen ständig Waffen bei sich.«
Wolfsträumers mahlende Kiefer zeichneten sich deutlich unter der Haut seiner Wangen ab. »Und mein Bruder?«
Abwehrend hob Singender Wolf die Hände. »Er behauptet, er hielte die Anderen in Schach und habe sie völlig unter Kontrolle. Die Menschen, die gekommen sind, sehen das ganz anders. Für sie ist alles eine gewaltige Katastrophe.«
Wolfsträumer nickte.
Der der schreit senkte die Augen. »Wir hatten gehofft, der Wolfstraum … Daß es einen Weg durch das Große Eis gibt.«
Unter halbgeschlossenen Lidern sah Wolfsträumer sie an. »Durch das Große Eis? Nein, nicht für unser Volk. Zu viele würden sterben, ausrutschen, stürzen, in Gletscherspalten fallen. Es gibt nichts zu essen. Nur Schnee und Eis und hin und wieder ein paar Kieselsteine an Stellen, wo die Schmelze eingesetzt hat. Ich durchquerte das Große Eis in einem Monat. Die meiste Zeit hatte ich nichts zu essen.«
Der der schreit und Singender Wolf wechselten beunruhigte Blicke. »Dann sieht es so aus, als bliebe uns nur Rabenjägers Weg. Kämpfen, bis …«
»Nein«, flüsterte Wolfsträumer mit merkwürdig fremder Stimme. »Mein Traum hat sich bewahrheitet.«
»Bewahrheitet?«
Wolfsträumer nickte. »Ich ging durch das Große Eis. Dort mußte ich Großvater Eisbär töten. Aber sein Fleisch ernährte mich.« Er zog einen Beutel hervor.
Mit zitternden Fingern band Der der schreit den Beutel auf und holte die Eisbärkrallen heraus.
Singender Wolf schluckte.
»Großvater Eisbär? So weit im Süden? Er ißt Seehunde und Robben. Wieso jagt er im Großen Eis?«
Der der schreit schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.«
»Bärenkräfte«, fügte Singender Wolf mit angehaltenem Atem hinzu.
»Gleichgültig, wie er dahin kam, er war jedenfalls da. Er verfolgte meine Spur.« In der Erinnerung mußte Wolfsträumer lächeln. »Zuerst versuchte ich zu fliehen. Doch ich besann mich und rief ihn wie damals die Karibus. Erinnert ihr euch?«
Die beiden nickten aufgeregt.
»Ich träumte, und in meinem Traum schickte ich ihn über die Eisschollen. Der Weg führte über eine schwankende Platte, die von den
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