Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
sie hoch wie eine Feder im Wind, ließ sie wirbelnd emporschnellen, aufsteigen und wieder herunterfallen. Die Strömungen wiegten ihre Seele, bis sie sich in einem seltsam vertrauten grauen Dunst niederließ.
Der Dunstschleier begann sie wirbelnd zu umwogen und verwandelte sich in honigsüß schimmerndes Gold. Aus dem immer dichter werdenden goldenen Licht kristallisierten sich langsam die Züge eines gutaussehenden jungen Mannes heraus. Das Licht schien zu flackern, wurde mal heller, mal dunkler.
»Wer bist du?«
»Alles, was du bist… und nicht bist. Der, der ich bin, tanzt mit dem Feuer und singt mit den Sternen.«
»Warum bin ich hier?«
»Deine Zeit naht. Der Weg liegt vor dir. Du bist Teil der Spirale: der Kreise ohne Anfang und Ende.
Dein Volk dein ganzes Volk braucht dich. Du bist der Weg… und du bist es nicht.«
»Was soll das heißen, ich bin der Weg und doch nicht der Weg?«
Der junge Mann lächelte. Weiße Esches Seele schmerzte angesichts dieser strahlenden Schönheit.
Seine Liebe wallte in ihr auf mit der Hitze glühender Kohlen und versetzte ihre Seele in Verzückung und Ekstase.
»Die Zeit ist gekommen. Der Weg, den du gehen mußt, ist schwer. Bist du stark genug? Kannst du lernen, was du lernen mußt?«
»Ich weiß nicht. Wovon sprichst du eigentlich?«
»Für dich beginnt ein neuer Weg. Suche… und prüfe dich selbst. Die Macht hat ihre Gründe. Du könntest diejenige sein, die wir suchen. Das Bündel wartet auf dich… wenn du den Weg findest und auf dich vertraust.«
Der goldene Dunst schimmerte, das Bild des jungen Mannes verschwamm.
»Warte! Komm zurück!«
»Suche. Lerne dich selbst kennen. Erfahre Liebe und Haß. Erfahre Glück und Leid. Erfahre Schmerz und Freude. Lerne.«
»Komm zurück!«
Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber der goldene Dunst begann unaufhaltsam zu verblassen.
Verzweifelt rief sie nach ihm, doch sie fiel in ein endloses seidiges Nichts. Das Licht wurde schwächer und schwächer, bis sich die Konturen der goldenen Schattierungen vollkommen in Grau auflösten.
Weiße Esche schrie gellend und erwachte schlagartig. Keuchend setzte sie sich auf. Trotz der Kälte lief ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Benommen blinzelte sie in die Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne erklang das Heulen eines Wolfes, herangetragen vom Wind, der leise um die Zeltstangen flüsterte und die rußgeschwärzte Türklappe auf und zu schlug.
Weiße Esche fror. Sie stand auf und stocherte in den Kohlen, bis eine winzige Flamme flackernd zum Leben erwachte. Sie blickte hinüber zu Salbeigeists Schlafplatz, der verlassen dalag. Sie machte sich große Sorgen um ihn. Er hatte nicht am Rat teilgenommen. Als sie ihm berichtete, was vorgefallen war, hatte er sie nur schweigend angesehen. Jeder Glanz in seinen Augen war erloschen.
»Wo bist du, Salbeigeist? Ich hoffe, du hast nicht auch den Verstand verloren.«
Entschlossen warf Weiße Esche die Haare zurück und legte ihren abgetragenen Mantel um die Schultern. Sie schlüpfte in die Mokassins, die sie zum Trocknen dicht an das Feuer gestellt hatte, und bückte sich unter der Türklappe durch.
Der niedrig über dem Bergkamm im Westen stehende Mond tauchte die Landschaft in fahles Licht.
Weiße Esche ging langsam durch das Lager. Die Hunde hoben die Köpfe, stellten die Ohren auf und beobachteten sie aufmerksam. Die gespenstischen Schatten der Zelte ließen in ihr die Erinnerung an Tapferer Manns Erzählungen vom Lager der Toten aufleben.
Vermischt mit den Bildern ihres Traumes, schien die Nacht auf sie herabzudrücken, als wolle sie sie unter sich begraben. Das Lager kam ihr unnatürlich still vor. Selbst das gewöhnlich aus den Zelten dringende Schnarchen war nicht zu hören. Der leichte Wind bewegte klatschend die Zelthäute und erstarb plötzlich. Die Sterne am Himmel glitzerten in kaltem Licht.
Ein Schauder überlief sie.
Das Knirschen ihrer Schritte im körnigen Schnee zerrte an ihren Nerven. Ihre Haut prickelte, als ob ihr aus den unheimlichen Schatten unsichtbare Augen folgten. Etwas Bösartiges schien hinter ihr zu lauern, pirschte ihr auf räuberischen Füßen nach. Sie wirbelte herum nichts war zu sehen.
Auch von Salbeigeist konnte sie weit und breit keine Spur entdecken. Es schien, als hätte er sich in der kristallklaren Luft aufgelöst. Mutig ging sie ein paar Schritte in das Dickicht hinein, um von dort zum Sandsteingrat hinaufblicken zu können. Eine undeutliche Silhouette zeichnete sich vor dem
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