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Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Titel: Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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Verzweiflung. Er schüttelte den Kopf und flüsterte:
    »Zeugnisse der letzten Tage.«
    »Was meinst du damit?« fragte Melisse, der plötzlich hinter ihm stand. Melisses Mokassins hatten beim Herankommen kein einziges Geräusch gemacht. Sonnenjäger wunderte sich, wie ein Mann in Melisses Alter sich so lautlos bewegen konnte. »Was bedeutet der letzten Tage?«
    Sonnenjäger zuckte die Schultern. Er wollte seine Gedanken nicht einmal für seinen alten Freund näher ausführen.
    »Nichts. Ich bin einfach müde, Melisse.«
    Melisse hinkte vorwärts. Er hielt sich an einem Tannenzweig fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Wie turmhohe Riesen wiegten sich die Bäume im Wind.
    »Ich denke, es ist mehr als das«, sagte Melisse. Sein Hemd und die Hose aus Lamaleder waren in einem warmen Dunkelbraun gebeizt, und seine grauen Zöpfe hoben sich deutlich dagegen ab. Beim Näherkommen wurde sein altes Gesicht nachdenklich. Er hielt sich mit der Hand an einem anderen Tannenzweig fest und blickte mit gerunzelter Stirn auf die toten Mammuts. Dann schob er seine eingesunkenen Lippen vor. »War es schlimm im Strauchnuß-Dorf?«
    »So viele sind gestorben, so schnell. Ich hatte keine Zeit, sie zu zählen.«
    Melisse befeuchtete die Lippen mit der Zunge und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich konnte deinen Schmerz fühlen. Du warst in den letzten Tagen so schweigsam. Deswegen habe ich nicht gleich mit dir gesprochen. Du konntest den Leuten im Strauchnuß-Dorf nicht helfen?«
    »Ich habe so vielen geholfen, wie ich konnte. Aber das halbe Dorf ist gestorben. Einfach gestorben.«
    Aus dem Spiegel seiner Seele stieg das Bild hohläugiger Kinder vor ihm auf, und sein Herz krümmte sich vor Qual. »Die meisten waren Kinder, Babys.«
    »Hast du deswegen den Mammut-Geist-Tanz versäumt? Wir haben so sehr auf dich gewartet.«
    Sonnenjäger spähte zur Mutter hinaus. Am Fuß der Felsen, auf denen die Löwen lagen, hatte sich eine dicke Schicht weißer Gischt angesammelt. Sie erinnerte ihn an das Hochgebirge. Selbst im Frühjahr waren die Granitgipfel über der Baumgrenze in einen glitzernden Mantel aus Schnee gehüllt. Er wünschte sich verzweifelt, dort zu sein. Alleine, um ungestört nachdenken zu können.
    Melisse betrachtete ihn ernst und murmelte: »Mammuts sterben, Dörfer sterben … Mutter Ozean ist immer zornig. Dieser Winter war kälter als irgendeiner, den ich in meinen dreiundfünfzig Jahren erlebt habe. Und unser größter Träumer ist wütend auf die ganze Welt. Hast du das gemeint, Sonnenjäger, als du sagtest, die Mammuts seien Zeugnisse der letzten Tage? Meintest du, daß unsere Lebensweise zu Ende geht, daß uns nicht mehr viel Zeit verbleibt?« Als Sonnenjäger nicht antwortete, seufzte Melisse tief und sagte: »Bitte sprich mit mir, Sonnenjäger. Ich muß wissen, was du siehst. Kannst du mir sagen, was deine Seele quält? Ich werde dich nicht anklagen, nicht verurteilen. Aber ich muß verstehen, was geschieht. Du scheinst jeden zu hassen, aber ich weiß nicht, was wir getan haben könnten, um dich so zu verärgern.«
    »Ich bin nicht wütend auf euch, Melisse, und ich hasse niemanden.« Sonnenjäger drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm, so daß er die toten Mammuts nicht mehr sehen konnte und sein Gesicht statt dessen dem südlichen Strand und dem Dorf mit den neuen Zelten aus Mammuthaut zugewandt war. Bei ein paar Zelten waren die Türvorhänge geöffnet, um die frische Morgenluft hereinzulassen, und er konnte die Zeltrahmen aus Walrippen erkennen. Sie glänzten schwarz von Ruß. In den Zelten saßen Menschen um das Feuer und unterhielten sich. »Melisse, ich …
    ich habe im vergangenen Jahresumlauf etwas entdeckt. Etwas, das mir Furcht einjagt.«
    »Was denn?«
    Sonnenjäger verschränkte die Arme schützend vor dem Herzen. »Ich habe entdeckt, daß es in jedem von uns eine Wildnis gibt. O ja, wir haben darum gekämpft, sie zu zähmen, ihre wilde Stimme zum Schweigen zu bringen. Aber es wird uns nie gelingen. Die Wildnis tief in unserer Seele. Ich habe die Menschen in den Dörfern beobachtet, die ich in den letzten Monden besuchte. Im Walbarten-Dorf und im Strauchnuß-Dorf ist es schlimmer als hier, aber du hast es auch gesehen. Die Menschen gehen die ausgetretenen Pfade zwischen den Zelten mit niedergeschlagenen Blicken und gerunzelter Stirn hin und her, Tag für Tag, Mond für Mond. Selbst die Kinder blicken finster, wenn sie in die Fußstapfen der Erwachsenen treten.«
    »Ja«,

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