Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Himmel. Aber immer wieder tauchten Wiesen auf und ließen die Landschaft sanfter wirken. Im Dämmerlicht des Morgengrauens wirkten die hellsten Wildblumen wie mit voller Hand ausgestreuter Silberstaub.
Du hättest niemals zulassen dürfen, daß er dich berührt.
Laß doch. Nicht jetzt. Warte, bis du ausgeruht bist und genug Kraft hast, darüber nachzudenken.
Wolkenmädchen regte sich in ihrem Sack auf Turmfalkes Rücken, und eine winzige Hand griff tröstend in das Haar der Mutter. Turmfalke faßte danach und streichelte die kleinen Finger. »Es geht schon, Baby.«
Eine angenehme Dumpfheit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie betäubte nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren vor Erschöpfung wunden Körper. Sie brauchte Schlaf, aber sie hatte Angst vor den Alpträumen, die sie heimsuchen würden. Wenn es ihr gelang, sich immer weiter vorwärts zuzwingen, konnte sie vielleicht bei Einbruch der Nacht im Otter-Klan-Dorf eintreffen. Sie mußte daran glauben, daß sie irgendwo am Ende dieses Pfades in Sicherheit sein und dort einen Ort finden würde, wo sie mit anderen Leuten zusammensitzen und den Kindern beim Spielen zuschauen konnte. Dann würden vielleicht auch die offenen Wunden in ihrer Seele verheilen können.
Wenn sie nur eine Zeitlang den Schmerz zulassen durfte, ohne befürchten zu müssen, daß ihre Schwäche Wolkenmädchen in Gefahr brachte, dann würde es ihr vielleicht wieder gutgehen. Als sie begonnen hatte, Eiskraut zu lieben, hatte sie nicht gewußt, daß der Preis für diese kurze Zeit der Wärme und Freude eine nie endende Angst sein würde. Wie wertvoll diese Momente gewesen waren, und doch war es ungeheuer wichtig für sie, sich davon zu lösen.
Das galt auch für andere Dinge.
Der Pfad wurde steiler. Turmfalke schritt kräftiger aus, sie zwang ihre müden Beine die Steigung hinan, so schnell sie nur konnte. Als der Sonnenaufgang näher kam, wichen die dunklen Silhouetten der Berge und Bäume einem wäßrigen, lavendelfarbenen Licht. Der Pfad verlief nun durch üppige Wiesen und wurde deutlicher und breiter. Turmfalke konzentrierte sich auf den Gedanken an den Otter-Klan und versuchte, sich an diese Hoffnung zu klammern. Sie dachte über die Dinge nach, die Sonn … die Dinge, die sie über den Klan wußte.
Kannst du nicht einmal seinen Namen aussprechen, Turmfalke?
Plötzlich hatte sie einen Kloß in der Kehle. Bei Sonnenjäger hatte sie sich sicher gefühlt - zum ersten Mal in ihrem Leben sicher -, und erst jetzt konnte sie sehen, welchen Preis er hatte zahlen müssen. Er hatte sich erlaubt, ihre Zuflucht zu sein, und dadurch sein Mammut-Oben gegebenes Versprechen gebrochen. Die Erinnerung an sein gequältes Gesicht in der vergangenen Nacht verfolgte sie. Er hatte beschämt und bestürzt ausgesehen. Warum hatte sie ihn nicht am Tag nach dem Ende des Schneesturms verlassen? Sie hatte sehr wohl gewußt, daß er zum Träumen allein sein wollte. Statt sie selbst zum Otter-Klan-Dorf zu bringen, hätte er ihr genausogut nur den Weg dorthin beschreiben können. Es wäre zwar sowieso verlassen gewesen, aber wenigstens wäre Sonnenjäger diese Qual erspart geblieben.
»O Sonnenjäger …«
Turmfalke begann zu zittern, doch sie wurde nicht von Tränen geschüttelt. Es war das trockene Zittern des nackten Gefühls.
Würde er sie nun hassen? Jetzt, da sie ihn dazu gebracht hatte, sie zu lieben, seine Fähigkeit zu träumen zerstört hatte und ohne ein Wort zu sagen weggelaufen war? Heiliger Alter-Mann-Oben, sie hatte ihn tausendfach verletzt.
In der vergangenen Nacht, als er sich in der Tiefe seiner Leidenschaft verloren hatte und sein weißes Haar wie ein funkelnder, vom Feuer gefärbter Schleier um ihr Gesicht herabgehangen hatte, hatte sie in seinen Augen ein schreckliches Entsetzen aufleuchten sehen -, das Entsetzen eines Mannes, der plötzlich feststellt, daß er sich in seine eigene Pflichtvergessenheit verstrickt hat, aber nicht den Willen findet, wieder den richtigen Weg einzuschlagen. Dieser Schreck hatte ausgereicht, um sie aus ihrem Glücksgefühl zu reißen.
Ich mußte gehen, Sonnenjäger. Das verstehst du doch.
Er durfte nun wieder zum Träumen zurückkehren, und sie konnte sich weiter ihrer Tochter widmen.
Sonnenjäger hatte ihr so viel gegeben. Sie war dankbar für die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie verzweifelt gefürchtet, daß jede Zärtlichkeit aus der Welt verschwunden sei. In seiner Gegenwart war zumindest diese Furcht
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