Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Werk des Bösen. So überlebte es, nährte sich von der Kraft des Körpers und der Seele. Und wenn ein Mensch es zuließ, wurde er völlig ausgesaugt, bis nichts als eine leere Fleischhülle übrigblieb. Die Seele verfaulte, und schwarz und verschrumpelt wie ein Stück Leber, das mehrere Tage in der heißen Sonne gelegen hat, verließ sie den Körper.
Vor langer Zeit hatten Melisses Eltern ihn einmal zu dem Dorf mitgenommen, wo die berüchtigte Hexe Kieferngalle lebte. Sie wollten dort einen Händler aufsuchen, der seltene Meeresschneckenhäuser von weit aus dem Osten brachte. Sie waren rosa, riesengroß und mit Stacheln besetzt. Während seine Mutter mit dem Händler feilschte, war die alte Frau aus dem Wald herausgekommen. Sie sah aus wie ein halbtotes weißes Wiesel, war unglaublich mager und hatte glühende, bernsteingelbe Augen, die jeden zu durchbohren schienen, der es wagte, ihrem Blick zu begegnen.
Melisse war erst fünf Sommer alt und hatte es gewagt. Da er es nicht besser wußte, hatte er ihr offen ins Gesicht geschaut. Kieferngalle hatte ihm mit ihrem fast zahnlosen Mund zugelächelt, und seine Seele hatte sich zusammengezogen. Er war innerlich so kalt geworden, als hätten sich all die unaussprechlichen Schrecken, die in den Schatten außerhalb des Dorfes lauerten, plötzlich erhoben und um ihn versammelt. In diesen Augen war nichts als Wut und Boshaftigkeit gewesen. Später hatte seine Mutter ihm gesagt, daß das Böse alles Weiche in Kieferngalles Seele zerfressen habe.
Klebkraut begann, ihr ähnlich zu sehen. Seine Augen zuckten nun ständig umher wie die eines rasenden Wolfs. Er nahm an allem möglichen Anstoß und schimpfte und zeterte. Er schrie die Kinder an, wenn sie spielten. Gestern hatte er einen kleinen Hund, der seiner Schwitzhütte zu nahe gekommen war, mit einem Speer getötet.
Melisse hatte den sieben Jahre alten Besitzer des Hundes die ganze Nacht lang weinen hören. Die Hälfte der Dorfbewohner rannte weg, wenn sie Klebkraut kommen sahen, die andere Hälfte schaute ehrfurchtsvoll zu ihm auf. Seine Anhänger spürten die Macht, die ihn erfüllte. Aber sie konnten nicht einmal raten, welch schreckliche Quelle sie hatte. Bisher hatten nur Schwindlige Robbe, Sumach, er selbst und seine beiden Enkel die überall im Wald verstreuten Zeichnungen des zerstörten Labyrinths gesehen. Bei so lebensgefährlichen Dingen konnte er nur wenigen Menschen trauen.
Klebkraut schlüpfte mit drei auf zwei Stöcke gelegten heißen Steinen in die Hütte. Dann kam er nochmals heraus und holte drei weitere Steine. Nach dem vierten Mal drang am Rand des Türvorhangs Dampf aus der Hütte, schimmerte in der Dämmerung und stieg in dünnen, gewundenen Fahnen nach oben, bis er vom Wind verweht wurde, der in den Wipfeln der höchsten Kiefern rauschte.
Melisse beugte sich erleichtert vor, fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar und blickte sich in der Runde um. Alle starrten ihn fragend an. »Noch nicht«, sagte er. »Wir müssen warten, bis wir den Beweis haben, daß er jemandem Schaden zugefügt hat. Diese widerlichen Labyrinthe reichen allein nicht aus.«
»Aber Großvater«, drängte Berufkraut mit leiser Stimme, »erinnerst du dich, was Sonnenjäger an dem Tag nach dem Angriff der Mammuts gesagt hat? Er könne den Weg durch das Labyrinth nicht mehr finden. Ist das nicht Beweis genug?«
Melisse schüttelte den Kopf. »Nein, es sei denn, Sonnenjäger stünde hier vor uns und würde bestätigen, daß er den Weg nicht findet, weil er verhext worden ist.«
Schwindlige Robbe beugte sich vor und ließ die Zunge über seine Zahnlücken gleiten. Vor dem Hintergrund der grünen Eichen und Kiefern sah er so braun und ausgetrocknet wie ein Herbstblatt aus.
Er schlang die Finger ineinander. »Wenn jemand der Hexerei für schuldig befunden wird, so lautet das Urteil auf Tod. Niemals habe ich von einer anderen Strafe gehört. Ihr etwa?«
Melisse schüttelte den Kopf, und Sumach antwortete: »Nein.«
Balsam flüsterte: »Das wäre eine Erlösung.«
»Das Problem«, erinnerte Melisse, »ist, daß jemand den Hexer töten muß. Ich habe als Kind Kieferngalle gesehen. Jeder wußte, daß sie eine Hexe war, aber keiner hat den Mut dazu aufgebracht.
Hexer und Hexen sind sehr mächtig. Man muß sich an sie heranschleichen und auf Anhieb tödlich treffen. Wer das nicht schafft, ist erledigt. Der Hexer wird ihn verhexen, und er wird eines schrecklichen Todes sterben.«
Balsam setzte sich plötzlich auf und hielt eine
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