Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
hinterließen im feuchten Sand tiefe Abdrücke.
Sie hatte sich verkrampft, als er sie letzte Nacht genommen hatte. In seiner Verzweiflung hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht. Erst später war sie auf seine Bewegungen eingegangen.
Du bist nicht besser als Stechapfel1. Der Gedanke brannte in ihm. Wahrscheinlich hatte Stechapfel sie auf diese Weise behandelt, voll Gier seine eigenen Bedürfnisse gestillt und sich um die ihren nicht gekümmert.
Als Sonnenjäger sich dem Walbarten-Dorf näherte, sah er einen Mann neben der großen Feuerstelle einsam auf dem Dorfplatz stehen. Niedrige Flammen loderten knisternd im kalten Wind.
Mit leiser Stimme rief der Mann ihn an: »Sonnenjäger!«
»Zecke?« Er lief auf die Feuerstelle zu.
»Sie ist weggegangen, Sonnenjäger.«
Er taumelte. »Weggegangen? Wann?«
»Ich konnte nicht schlafen, sah sie vor vielleicht zwei Stunden die Küste entlanggehen.«
»Sie ist mitten in der Nacht weggegangen? Wohin? In welche Richtung?«
Zecke verschränkte die Arme vor der Brust und stieß die Luft aus.
»Nach Norden. Das ist alles, was ich weiß.« Er schwieg einen Moment. »Sonnenjäger, ich muß dir etwas sagen. Ich weiß nicht, ob sie dieselbe Turmfalke ist, aber …«
»Was meinst du mit ,dieselbe Turmfalke'?«
Zecke neigte voll Mitgefühl den Kopf. »Zum einen haben gestern zwei Männer hier angehalten. Ich habe sie wegen der Krankheit weggeschickt, doch zuvor haben sie mich nach einer Frau namens Turmfalke gefragt. Der grauhaarige Mann, ein Händler namens Stechapfel, sagte, sie sei seine Frau und reise mit einem Säugling. Er fragte, ob wir sie gesehen hätten. Als ich verneinte, erkundigte er sich nach dem Weg zum neuen Otter-Klan-Dorf. Den habe ich ihm beschrieben.«
»Hm.« Sonnenjäger schluckte sein Entsetzen hinunter. »Was noch?«
Zecke fuhr ziellos mit der Hand durch die Luft. »Vier Jäger vom Schwarzwassertal-Klan sind durchgewandert. Sie sagten, möglicherweise würde der Händler Stechapfel hinter ihnen herkommen, und wir sollten uns in acht nehmen, weil er verrückt sei. Sie sagten, er trage ein totes Baby in einem Bündel auf seinem Rücken und behaupte, daß es mit ihm spreche. Sie sagten, daß auch sie diese Turmfalke verfolgten, weil sie ihren Bruder getötet habe. Sie habe sein Herz mit einem Stilett aus dem Wadenbein eines Tapirs durchbohrt. Als du dann ankamst und ich den Namen deiner Begleiterin hörte, konnte ich nicht glauben, daß sie dieselbe Frau ist. Vor allem nicht, als ich sah, wieviel Zuneigung du ihr entgegenbrachtest. Aber jetzt … Ist sie dieselbe Frau?«
»Ja«, antwortete er, »obwohl ich nicht weiß, ob das, was man dir erzählt hat, stimmt.« Hatte Turmfalke einen Menschen getötet?
Zecke musterte Sonnenjäger eingehend. »Verlaß uns nicht, Sonnenjäger. Wir brauchen dich. Ich weiß, daß du dir wegen Turmfalke Sorgen machst, aber wir sind verzweifelt. Wir brauchen dich so dringend.
Das verstehst du doch? Sie ist eine Frau. Zehn meiner Verwandten sind krank.«
Wie winzige Obsidiansplitter schoß der Schmerz durch Sonnenjägers Adern. Alles Sprechen und alles Denken war eine Qual für ihn. In seiner Seele flüsterte eine Stimme: Du bist ein Träumer. Deine Pflicht liegt hier.
Drüben bei dem Hügel erhob sich die Mammutkuh. Blaßblaues Licht schoß von ihren kurzen Stoßzähnen und spiegelte sich mit einem feurigen Glanz in ihren Augen wider. Das Kalb stand da und schüttelte sich, so daß sein langes, kastanienfarbenes Haar es schimmernd umwogte.
Zecke wandte sich um und schaute in dieselbe Richtung wie Sonnenjäger, dann streckte er einen Arm aus. »Turmfalke ist nun schon so lange auf der Flucht, Sonnenjäger. Sie wird zurechtkommen. Sie weiß, wie sie sich vor ihrem Mann verstecken muß. Aber wir …«
Ein erstickter Schrei blieb in Sonnenjägers Kehle stecken. Taumelnd rannte er über den Sand auf sein Lager zu.
Der leichte Duft von Frühlingsgras und feuchtem Fels lag in der Luft. Turmfalke arbeitete sich den gewundenen Pfad durch die Vorberge hinan. In der vergangenen Nacht hatte der Mond den Pfad wie eine Fackel erhellt, und sie hatte eine gutes Stück Weges zurückgelegt. Im Westen leuchtete Mutter Ozean in einem von silbrigem Funkeln überzogenen Indigoblau. Nach Osten zu wurden die Berge zerklüfteter. Als Turmfalke weiter vordrang, änderte sich der Wald von einem dünnen Bestand verstreut stehender Tannen zu einem dichten Mischwald aus Eichen und Kiefern. Mehrere Gipfel aus Granitfels ragten schroff zum
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