Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
wo sie noch vor wenigen Tagen zugesehen hatte, wie ihr Bruder die Eltern belauschte. O Vogelkind, wo bist du? Das Herz klopfte ihr im Hals, als sie sich langsam vorwärtsschob und plötzlich innehielt. Das hintere Fenster des Hauses hatte dank der zusammengefallenen Vorderfront Aussicht auf die Plaza, und da kauerten Menschen.
Kleine Schnecke, sieben Sommer alt, wimmerte leise in hohen Tönen; sie mühte sich, einen kleinen Jungen aus einem brennenden Haus zu zerren. Der Körper plumpste auf den Rücken, und Maisfaser legte sich die Hand auf den Mund, um das Zucken der Lippen zu unterdrücken. Löwenjunge! Eins seiner Augen stand offen und starrte blind zum Himmel. Kleine Schnecke zog immerfort schluchzend ihren Bruder an den Füßen weg. Seine Arme lagen ausgebreitet, und jedesmal, wenn sie zerrte, schürften seine Hände Sand auf. Sie setzte ihr ganzes Gewicht bei diesem Kampf ein, bewegte Löwenjunge aber kaum eine Handbreit weiter und sank schluchzend zu Boden. Sie vergrub ihr Gesicht auf der Brust ihres Bruders.
Als Kleine Schnecke zusammenbrach, sah Maisfaser ihren Vater… und Vogelkind! Mitten auf der Plaza saßen sie auf dem Boden. Ein hochgewachsener Mann mit eckigem Kinn stand über ihnen. Er trug den Helm eines Kriegers, eine eng sitzende Kappe aus Bisonleder. Er schwang eine Kriegskeule in der rechten Hand, der steinerne Keulenkopf glänzte blutig im Feuerschein.
Maisfaser rutschte nach links. Wo war ihre Mutter? Was war mit ihr geschehen? War sie geflohen? O heilige Thlatsinas, laßt es doch so sein! Und Steinerne Stirn? Wohin war er gelaufen? Ihr zog sich der Magen zusammen. Steinerne Stirn hatte sich vermutlich sofort in die Schlacht gestürzt und Pfeile abgeschossen, so schnell er konnte, um sein Volk zu verteidigen. War er tot? Oder hatte er gesehen, daß der Kampf aussichtslos war, und sich davongemacht?
Ihr Vater legte einen Arm um Vogelkind und drückte ihn an sich, was den hoch aufgeschossenen Krieger zu erzürnen schien. Sein rotes Hemd klatschte ihm um die Beine, als er vor ihnen auf und ab schritt, einen Hirschknochen-Dolch in der linken Hand.
»Du mußt wissen, Palmlilie«, brüllte der Mann über das Flammengetöse hinweg, »daß ich dich töte, wenn du es mir nicht sagst.«
Ihr Vater umarmte Vogelkind noch fester. Er brüllte zurück:
»Ich weiß es, Spannerraupe.«
Spannerraupe? Was machte der hier?
»Wer ist der richtige Vater dieses Jungen?« fragte Spannerraupe.
Vogelkind kniff die Augen zusammen, er war krank vor Angst.
»Das bin ich.« Palmlilie versuchte, sein Bein auszustrecken und unterdrückte einen Schrei. War das etwa Blut, die Flecken auf seinem Oberschenkel?
»Lüg mich nicht an! Ich weiß, seine Mutter ist die Hure Nachtsonne! Für dieses Verbrechen wird sie ihre Strafe bekommen. Aber wir müssen auch den Vater finden. Antworte! Ist es mein Vetter Nordlicht?«
Seine Krieger schrien empört auf. Eine solche Paarung wäre Inzest! Sie sahen sich gegenseitig voller Unbehagen an.
Spannerraupe schritt hin und her und ließ die blutige Keule auf seine Handfläche klatschen. Er schrie: »Ich weiß, daß Nordlicht im Privatgemach von Nachtsonne schlief, als Krähenbart mit den Hohokam Handel trieb! Er muß der Vater sein!«
»Vogelkind ist mein Sohn«, beharrte Palmlilie wütend. »Seine Mutter…« Seine Stimme brach. »War… war meine Frau, Distel. Du weißt das, Spannerraupe. Von den Nächten her, da du an meinem Feuer gesessen und meine Gastfreundschaft genossen hast. Ich sage die Wahrheit!«
Maisfaser schrie innerlich auf: Nein! Mutter konnte nicht -Spannerraupe deutete mit der Keule auf Palmlilie; in dem fahlen Licht glänzte sie bernsteinfarben. »Du nennst also die Gesegnete Sonne einen Lügner?«
»Was soll dieser Wahnsinn?« brüllte Palmlilie. »Spannerraupe, du kennst mich doch! Bei den heiligen Thlatsinas und bei meiner Seele schwöre ich, daß ich die Wahrheit sage! Dieser Junge ist mein Sohn, den meine Frau geboren hat! Wenn die Gesegnete Sonne etwas anderes gesagt hat, dann irrt er!« Aus schmerzlich zusammengekniffenen Augen blickte Palmlilie hoch und sagte mit gepreßter Stimme: »Selbst jetzt, Spannerraupe, nach diesen ungeheuerlichen Greueln, werde ich die Gesegnete Sonne nicht einen Lügner nennen - ich sage nur, daß er sich irrt.«
Unwillkürlich fing Maisfaser wieder zu schluchzen an, aber das versuchte sie sofort zu unterdrücken. Tränen trübten ihr die Sicht und rannen ihr heiß über die Wangen. Die Gesegnete Sonne hatte Spannerraupe
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