Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
aufgetragen, einen Jungen zu finden. Was hatte das zu bedeuten? Hatte ihre Mutter sie angelogen? Aber aus welchem Grund?
Palmlilie schaute Spannerraupe mit funkelnden Augen an. »In all den Jahren, in denen wir Seite an Seite gekämpft und Kälte und Mühen geteilt haben, hast du mich da je bei unehrenhaften Handlungen ertappt? Hast du je meine Treue oder meinen Mut in Frage gestellt?«
Spannerraupe schüttelte den Kopf. Seine Lippen bewegten sich, aber Maisfaser konnte seine Antwort nicht verstehen.
Palmlilie erhob sich schwankend und humpelte schmerzgeplagt auf seinem blutenden Bein. Böse blickte er auf die Krieger auf der Plaza. »Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um viele von euch zu retten! Der Mann, der neben euch gekämpft hat, der Krieger, der mit euch am Feuer gesessen hat, der euch versorgt hat, wenn ihr verwundet wart, der sagt euch jetzt, daß ihr im Unrecht seid. Dies ist mein Sohn, wie die Götter bezeugen können. Ihr habt Unschuldige getötet! Wollt ihr euch zwei weitere Morde auf die Seele laden? Irgend jemand von euch?«
Spannerraupe schlug sich die Keule auf die Handfläche. »Ich muß es tun, Palmlilie, ich habe keine Wahl! Ich habe den Befehl, keine Zeugen am Leben zu lassen.«
Ihr Vater brach zusammen; er fiel zu Boden und umarmte Vogelkind so heftig, daß seine Arme zitterten. Maisfaser sah, daß Vogelkind weinte. »Dann, um eurer Seele willen, tut es schnell!« Spannerraupe winkte mit erhobener Hand jemandem, der außerhalb von Maisfasers Blickfeld stand, und brüllte: »Stechmücke! Tu du… tu du es!«
Der Ring der Krieger rückte zusammen, bis sechs Krieger ihr im Rahmen ihres Fensters die Sicht versperrten. Maisfaser zwinkerte, um die Tränen aus ihren Augen zu vertreiben. Spannerraupe trottete aus ihrem Blickfeld, tauchte aber außerhalb des Vierecks der verbrannten Häuser wieder auf. Er zuckte zusammen, als er seine Schulter massierte, so wie ein Mann, der seinen Wundschmerz lindern möchte, und sank dann zu Boden, nahm sich den Lederhelm ab und legte den verschwitzten Kopf in beide Hände.
Ihr Vater schrie durchdringend auf, ein dumpfes Klatschen ertönte, und Vogelkind stieß einen hohen, klaren Schrei aus - mittendrin abgeschnitten wie mit einer Obsidianklinge.
Die Krieger lösten sich aus dem Kreis, bewegten sich eine Weile hin und her, dann fluchte einer laut, und alle zogen sich langsam zurück. Maisfaser stützte sich zitternd auf die Ellbogen und betrachtete den Schauplatz.
Als die Krieger nacheinander die Plaza verließen, sah sie ihren Vater auf dem Rücken liegen; sein Hemd war blutgetränkt, und quer über dem Bauch…
»Hier!« Stechmücke ging zu Spannerraupe und warf ihm etwas zu, was wie ein Lederball aussah. Maisfaser steckte sich die sandverkrustete Faust in den Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Spannerraupe hob Vogelkinds Kopf auf und nahm ihn unter seinen unverletzten Arm. »Stechmücke, nimm deine Männer und bring das hier zu Ende. Laß keinen am Leben, es darf keine Zeugen geben.« Stechmücke wies seine Krieger mit einer Handbewegung an zu handeln und kehrte zur rauchüberdeckten Plaza zurück.
Spannerraupe blickte zu einem anderen Krieger und rief: »Los, gehen wir! Dieser Mann war mein Freund!« Er sprang auf. »Wir schlagen unser Lager an der Weggabelung auf.«
Er trabte los, und zehn oder zwölf Männer liefen hinter ihm her.
Maisfaser sah sie im Dunkeln verschwinden.
Sie konnte kaum atmen.
Gräßliches Kreischen hallte weiterhin durch die Nacht. Stechmücke stürmte mit seinen Männern vor dem Fenster vorbei. Das Gebrüll der Mörder vermischte sich mit den Schreien der Menschen ihres Clans zu einem schaurigen Getöse, bei dem ihr übel wurde.
Dicker Maiskolben, der alte Mann, taumelte vor dem Fenster vorbei, schluchzend, die Hände über dem Kopf. Ein Krieger mit einer Keule rannte ihm nach… und dann waren sie außer Sicht. Kleine Schnecke kreischte mit kindlicher Stimme: »Nein, bitte, ich hob doch nichts Böses getan! Tu mir nicht weh, bitte! NEIN -«
Maisfaser sah im Feuerschein, wie eine Kriegskeule sich hob und hinuntersauste, und hörte, wie ein Schädel krachend zerbarst.
Sie wälzte sich auf den Rücken und rang nach Atem. Die Abendleute blinkten und zwinkerten. Ihre Muskeln verkrampften sich, und ihre Glieder zuckten wie bei einem verwundeten Tier. Sie nagte an ihrer sandüberkrusteten Faust, während Tränen ihr übers Gesicht strömten.
Tief in der Hülle ihres Körpers stieß ihre Seele einen Schrei aus, der
Weitere Kostenlose Bücher