Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
kleiner Junge gewesen, aber sogar damals hatten die Erwachsenen ihn gelobt und gestreichelt. Er hatte immer genug zu essen und in den langen Wintern genügend Wärme gehabt. Er mußte sich jetzt eingestehen, daß er noch nicht wirklich wußte, was Leid war. Das beunruhigte ihn etwas, denn er hatte den Verdacht, er müßte es eigentlich wissen. Jeder große Sänger, von dem er wußte, hatte schrecklich leiden müssen.
Tief in seinem Innern hörte er Düne brüllen: Großartig! Großartig! und unterdrückte diesen Gedanken.
Zwei Falken kreisten in großer Ruhe jenseits der Mesa-Kante. Er sah sie in das blaue Himmelsgewölbe aufsteigen und lächelte. Schweißperlen hingen an seiner Hakennase und befeuchteten das schwarze Haar, das an seinem schmalen Gesicht klebte. Die Thlatsinas spielten; einen Tag schickten sie eisige Kälte und den Tag darauf das grellste Sonnenlicht.
Er schob den Kiesel in seinem Mund in die andere Backe. Er hatte diesen Stein seit zwei Tagen unter der Zunge gehabt, aber er schmeckte immer noch süßlich erdhaft.
Sängerling wandte sich von den müßigen Tänzen der Falken ab und schlenderte am Klippenrand entlang, Ausschau haltend. Er hatte es tatsächlich fertiggebracht, Dünes Anweisung entsprechend seine Zunge im Zaum zu halten, und so dachte er, er könnte heute üben, ein Käfer zu ein. Aber was für einer? Kam es darauf an? An solchen warmen Tagen tauchten sie zu Dutzenden aus dem Nichts auf, und ihr Erscheinen erwies sich als sehr peinvoll. Er hatte ein fast unwiderstehliches Verlangen, jeden einzelnen totzuschlagen und ihn zwischen seinen Zähnen knacken zu hören. Wahrscheinlich weil er seit sechs - oder waren es sieben? -Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Die Unendlichkeit der Wüste hatte ihn eingesogen, und er… Ein Käfer!
Der schwarze Käfer kroch an einem ausgezackten Spalt im Sandstein vorbei, unverdrossen, über Grasfetzen und alte Wacholdernadeln; sein knolliger Rumpf glänzte im Nachmittagslicht. Sängerling betrachtete den Käfer aufmerksam. Dann legte er seine Hände auf den Stein, spreizte die Beine und bewegte sich im Käfergang, das hintere Ende hochgereckt, die Hände tasteten den Weg ab, und der Körper schwankte hin und her.
Als der Käfer anhielt, um einen grauen Kiefernzapfen mit seinem fadendünnen Arm zu befühlen, fuhr Sängerling mit den Fingern über den nächstbesten Zapfen, der allerdings schon abgenagt war. Die Backenhörnchen hatten alle Schuppen abgezogen, und übriggeblieben war nur ein schlanker Kolben, den feine, glänzende Härchen umhüllten; Sängerling war überrascht, wie glatt und weich er war.
Der Käfer krabbelte um den Zapfen herum, in ein Häufchen getrockneter Wacholderbeeren hinein. Der winzige Mund war heftig am Werk.
Sängerling schaute sich die runzligen Beeren genau an und probierte eine. Sie war von fadem süßlichem Geschmack. Er zog das Gesicht zusammen und legte die Beere in den Spalt zurück. Der Käfer eilte weiter, offenbar unbeeindruckt davon, daß Sängerling ihn nachahmte. Der warme Stein fühlte sich unter seinen Handflächen rauh an. Staub drang Sängerling in die Nase. Da ihm immer mehr Blut in den Kopf schoß, fürchtete er, sein Kopf könnte zerspringen. Aber er blieb bei der Sache und versuchte zu lernen, zu empfinden und die Welt zu betrachten wie ein Käfer.
Der Käfer kletterte aus dem Spalt heraus und marschierte zielstrebig über den Sandstein. Sängerling kroch ihm nach.
Der Käfer fiel jetzt in Laufschritt, den Kopf tief auf dem Boden, als folgte er schnüffelnd einer Fährte. Fast sprang er über den Fels.
Als der Käfer in den Schatten eines Felsblocks krabbelte, dort anhielt und wie wild mit Armen und Mund arbeitete, runzelte Sängerling die Stirn. Er beugte sich tiefer, um besser zu sehen. Der kühle Schatten umfing ihn, als er den Käfer beobachtete. Dieser hatte einen Spritzer Steppenhuhnkot gefunden, den er selig zu einer Kugel rollte.
Sängerling wälzte den Kiesel in seinem Mund umher; er schmeckte jetzt weder süß noch nach Erde. Entmutigt ließ er sich auf den warmen Stein fallen. Düne hatte ihm gesagt, wenn man lange genug auf einen Tautropfen schaute, sähe man darin das ganze Universum.
Sängerling betrachtete lange angestrengt den Steppenhuhnkot. Der Käfer werkelte mit großer Achtsamkeit, formte die Kugel mit den Beinen und rollte sie.
Sängerling strich sich durch das schwarze Haar.
Könnte ich nicht vielleicht auch ein Schmetterling
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