Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
sein.« Weil sie dafür bezahlt wurden, auf ihn aufzupassen? Oder weil er in Wahrheit ihr einziges Kind war? Wer hatte den Aufenthalt des versteckten Kindes verraten? Und warum?
Jemand hatte offenbar das Geheimnis ausgeplaudert, als Krähenbart starb, vielleicht weil er es für gefahrlos hielt, vielleicht aus Bosheit. Aber warum hatte Schlangenhaupt, der neue Häuptling, den Tod von Vogelkind gefordert? In der Nachfolge war Vogelkind für Schlangenhaupt keine Bedrohung, jedenfalls nicht innerhalb des Herrschaftsbereichs des Volks vom Rechten Weg.
»O Vogelkind!« Sie stampfte den Hügel hinunter, um den Schmerz zu verdrängen, zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, keuchend, mit zitternden Beinen. »Vater? Mutter? War ich wirklich eure Tochter? Oder habt ihr mich nur groß gezogen?«
Der Türkismädchen-Berg glitzerte in der Ferne, als die Mittagssonne auf den schneebedeckten Gipfel fiel. Wassergräben durchschnitten die Hänge und krochen über die trockene Savanne wie Baumwurzeln, die in der Tiefe nach Wasser suchen.
Eisenholz könnte Vogelkinds richtiger Vater sein, wie Maisfasers Mutter vermutet hatte. Aber das war jetzt ohne Bedeutung. Eisenholz war nicht verpflichtet, Maisfaser Hilfe anzubieten, nur weil sie mit seinem Sohn zusammen groß geworden war.
Ich bin allein. Ich kann niemandem vertrauen, nur mir selbst.
Es sei denn, vielleicht dem großen Priester Nordlicht. Der Klang in der Stimme ihrer Mutter, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn, alles, was sie am letzten Tag gesagt und getan hatte, galt Maisfaser als Beweis dafür, daß Nordlicht ihrer Mutter die wunderbare türkisbesetzte Decke geschenkt hatte. Vielleicht hatte er die Zahlungen geleistet und nicht Nachtsonne? War die Decke der Gegenwert für einen Monat Pflege für seinen Sohn? So wie Spannerraupe vermutet hatte?
Ich kann das nicht genau wissen, das ist unmöglich.
Trotz des Vertrauens ihrer Mutter in Nordlicht würde Maisfaser niemandem mehr vertrauen. Nicht nach dem, was mit Lanzenblattdorf geschehen war. Der Weg endete unvermittelt auf einem Klippenüberhang. Maisfaser verlangsamte den Schritt und rang nach Atem.
Von ihrem Ausgangspunkt aus überschaute sie das weite wellige Land, das von Wacholder- und Kiefernhainen und beifußbewachsenen Flecken unterbrochen war. Hier und da ragten scharfkantige Steinpfeiler hoch, gleich Dutzenden von Kaktusstacheln, die sich anstrengten, zerknitterte rote, gelbe und weiße Decken zu durchstoßen.
Maisfaser ging vorsichtig bis zum Rand der Klippe und schaute hinab. Man hatte Stufen in den Stein gehauen. Zweihundert Hände unterhalb stand ein völlig nackter junger Mann im Sonnenlicht. Er war großgewachsen und mager, hatte hüftlanges schwarzes Haar, das um ihn herumwehte, als er sich drehte und seine Arme schwenkte. Er schien zu singen, aber es klang eher wie ein im Halbschlaf vorgetragenes Summen.
War er gefährlich? Maisfaser suchte den Canyon nach Zeichen von Dörfern, Menschen oder Lagern ab, sah aber nichts. Was machte der Mann da unten?
Der junge Mann lachte, warf den Kopf zurück und schlug mit den Armen.
Völlig erschöpft nahm Maisfaser den Bogen vom Rücken und legte sich auf den Bauch, um ihn zu beobachten. Der Atem des Windjungen strich sanft über den Rand des Canyons und kühlte ihr schweißnasses Gesicht. Der Geruch von Erde und Staub stieg ihr in die Nase. Der Junge schien ganz ungefährlich zu sein. Maisfaser schätzte ihn etwa gleichaltrig - fünfzehn oder sechzehn Sommer. Der Junge fing an, sich im Kreis zu drehen, durch die Beifußbüsche stolpernd, als hätte er einen Krug Wacholderbeerwein getrunken. Er lachte. Die Canyon-Wände warfen den Klang zurück. Er sah wirklich nicht gefährlich aus, doch vielleicht war er etwas gestört.
Der Hunger machte ihr zu schaffen. Sie hatte alles aus ihrem Bündel aufgegessen und nirgends so lange verweilt, um zu jagen oder Eßbares zu sammeln. Während sie den Jungen beobachtete, knurrte ihr Magen mißvergnügt. Vielleicht teilte der Junge eine Mahlzeit mit ihr - aber nicht, wenn sie ihn mit eingelegtem Pfeil begrüßte.
Vorsichtig wie eine Katze auf der Jagd stand sie auf, streifte den Bogen über die Schulter und kletterte über den Rand, über die Stufen hinabsteigend wie über eine Leiter.
Der junge Mann schien keine Notiz von ihr zu nehmen. Er taumelte einfach grinsend durch die Büsche. Geräuschlos kam sie unten an und sah das weiße Häuschen mit den abgeplatzten Putzplacken, die im Salbei lagen. War das sein Haus?
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