Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
einsetzen wirst, um mich zu beschützen, aber ich …« Trauertaube schaute zu dem Loch im Dach auf, um sich zu vergewissern, daß niemand dort stand, und beugte sich dann nahe zu Düne und flüsterte: »Schlangenhaupt ging letzte Nacht vor Sonnenuntergang weg, mit einer Decke und einem großen Bündel.«
Düne runzelte die Stirn. »Vielleicht wollte er nach seines Vaters Tod eine Weile allein sein.« Trauertaube schüttelte den Kopf. »Nein, Ältester. Kriecher hat ihn unten an der Senke gesehen, wo er mit einem anderen Mann sprach. Dem hat er sein großes Bündel gegeben und -«
»Und als Schlangenhaupt nach Krallenstadt zurückkam«, mischte sich Kriecher ein, offenbar von dem Wunsch getrieben, die Geschichte selbst zu erzählen, »sah er Lerche über die Plaza eilen und hat vielleicht geargwöhnt, daß er ihn gesehen hatte.«
»Woher weißt du das? Hat er Lerche angerufen? Ihn befragt?« »Nein«, antwortete Trauertaube, »aber Lerche hat gesagt, daß Nordlicht auf das Dach seiner Zimmer im vierten Stock herausgetreten ist und Schlangenhaupt mit erhobener Hand ein Zeichen gegeben hat; dann hat er plötzlich einen scharfen Schmerz in seiner Kehle gespürt und vermutet, daß Schlangenhaupt Nordlicht befohlen hat, ihm eine Hexenpille in den Mund zu schießen. Und heute, als er auf der Plaza zusammengebrochen ist und nicht mehr aufstehen konnte, da …«
»Da hast du das auch geglaubt«, schloß Düne die Geschichte ab. Er nickte gedankenvoll. Nordlicht wirkte so seltsam und abschreckend auf die Sklaven, daß sie ihn mehr fürchteten als die Götter. Viele Sommer lang hatte Düne sich alle Mühe gegeben, das Vorurteil, Nordlicht wäre ein Hexenmeister, zu zerstreuen, aber seine Worte schienen die Sache nur noch schlimmer zu machen, und so hatte er es aufgegeben. »Also, dann wollen wir Lerche gemeinsam helfen. Über Schlangenhaupt machen wir uns später Gedanken. Bringt mir mal das Ei, bitte.« Trauertaube gehorchte eilends. Sehr behutsam hob sie die Schale und das Ei auf und brachte beides zu Düne. Er stellte sie neben sich auf den Boden. Kriecher stapfte geduckt näher wie ein Bär, der gleich angreifen will. Er hatte rote Flecken auf den Wangen. »Heiliger Heimatloser, Lerche ist ein guter Freund, und das schon seit zwanzig Sonnenkreisen. Bitte, ich weiß, er ist nur ein Sklave, aber er ist ein guter und treuer Mensch. Ich -« »Ich will tun, was ich kann, Kriecher. Aber jetzt, bitte, schweig. Ich habe Pflichten zu erfüllen.« »Ja, ich … Es tut mir leid.« Kriecher setzte sich auf die Absätze und faltete die Hände im Schoß. Trauertaube kniete sich dicht neben Kriecher, so nahe, daß ihre beiderseitige Zuneigung ganz offensichtlich war, was Düne verwunderte.
Viele der Gemachten Menschen verbanden sich zwar mit Sklaven, aber es galt als unschicklich, wenn sich Clan-Führer mit ihnen einließen. Nun … Düne interessierte das nicht.
Er nahm das Ei und wärmte es einen Augenblick lang in seinen Händen. Dann zog er Lerches Decke bis zu den Hüften hinunter. Als er das Ei auf dem Bauch des alten Mannes rieb, sang er: Steh auf! Erwache!
Schau über die verschlungene Straße
zum Rechten Weg, Schau über die Wirrnis, Mach sie glatt und gerade Folge dem Rechten Weg! Steh auf! Erwache!
Lerche ächzte. Seine Arme bewegten sich schwach.
Kriecher beugte sich über seinen Freund und murmelte sanft: »Alles ist gut, Lerche. Der heilige Heimatlose ist hier. Er reinigt dich.«
Diese Worte schienen Lerche zu besänftigen. Seine Arme fielen zurück, und er seufzte zufrieden auf. Düne schlug das Ei auf dem Boden auf und goß das Innere in die Tonschale. Die Reinheit des Eis würde den Hexenfluch, wenn es denn einen gab, aus Lerches Körper herausziehen. Er stellte die Schale oberhalb von Lerches Kopf ab.
»Es muß jemand bei ihm bleiben«, sagte Düne. »Wenn ein Auge in dem Ei erscheint, ist er geheilt, aber vielleicht spuckt er die Pille aus, die man ihm in den Mund geschossen hat. In diesem Fall bewahrt sie auf. Hexen kennzeichnen oft ihr Gerät. Vielleicht können wir es zurückverfolgen.« Kriecher nickte und streichelte die Hand von Trauertaube. »Trauertaube wird diese Nacht bei ihm bleiben, und ich werde morgen bei Lerche wachen.«
»Gut.« Dünes Knie knackten, als er aufstand. »Ich gehe wieder unter meine Decken. Sagt Bescheid, wenn ihr mich braucht.«
Kriecher schaute dankbar auf. »Das werde ich tun. Ich danke dir, heiliger Heimatloser.« Düne erklomm die Leiter, Sprosse um Sprosse, ging an den
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