Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Rand des Daches und beobachtete die blinkenden Abendleute. Die Spinnenfrau hatte gerade ein dünnes Bein über den dunklen Canycn-Rand ausgestreckt und kroch über den Himmel in Richtung auf Vater Sonne. Düne atmete aus, sein Atem hing vor ihm wie ein Nebel.
Sein Blick schweifte über die weißen Mauern der Stadt und hinab zur Senke, einer schwarzen Zickzacklinie. Er kniff die Augen zusammen.
Warum traf sich Schlangenhaupt, die Gesegnete Sonne von Krallenstadt, heimlich mit einem andern? »Weil er etwas tut, was sein Volk nicht gutheißen würde«, murmelte Düne vor sich hin. »Vielleicht verkauft er das Volk des Rechten Wegs an den Meistbietenden.«
Was hatte das große Bündel wohl enthalten? Wollte er jemanden bestechen? Oder für geleistete Dienste bezahlen?
Düne kletterte die Leiter hinunter und humpelte über die Plaza, sinnend, die Stirn gerunzelt.
Sängerling stand auf der Mesa und schaute nach Westen. Nachmittagswolken, wie Büschel von Rohrkolben-Flaum, schwebten über dem sonnenhellen Canyon. Ihre Bäuche glühten leuchtend gelb, als hätten die Götter sie einzeln in kräftigen Flechtenfarbstoff getaucht. Er lächelte. Es war ganz windstill. Das Skelett des Landes lag offen da. Rote, goldene und weiße Knochen erstreckten sich in jede Richtung, durchbrochen von gewundenen Wassergräben, mit blaßgrünen und dunkelgrünen Bäumen bestanden.
Fern im Südwesten erhoben sich die Thlatsina-Berge über die Wüste. Sängerling sah sie vor seinem geistigen Auge. Die Geister der Ahnen waren sicher freudig gestimmt; sie drängten sich in Wolkengestalt um die Gipfel, unterhielten sich mit den Göttern und berieten sie im Hinblick auf die merkwürdigen Gebräuche der Menschen. Glitzernde Regendecken fielen schräg ins Land. Die Berge dienten dem Universum als Rippen. Auf ihrer Reise durch die Unterwelten hatten die Ersten Menschen Samen der Berge, die sie sahen, gesammelt. Als sie in diese Fünfte Welt aufstiegen, pflanzten sie diese Samen an denselben Stellen ein, wo sie auch im Schoß Unserer Mutter Erde gelegen hatten; sie wußten, daß sich die Wurzeln dieser Berge tief hinunterbohrten und die Gipfel unten berühren würden.
Die Thlatsinas hatten das gleiche gemacht, jedoch in den Himmelswelten. Sie hatten Samen der Berge in der Fünften Welt gesammelt und sie in den Wolken eingesetzt.
Manchmal, wenn das Licht stimmte, konnten Menschen die Himmelsberge sehen. Sie sahen aus wie gemeißeltes Sonnenlicht.
Sängerling breitete die Arme aus und ließ die lebensspendende Sonne in sich eindringen; er bot seinen nackten Körper der Schönheit dar. Ein sonderbarer euphorischer Rausch hatte ihn ergriffen. Als wäre sein Leib aus langem Schlaf erwacht, so zart und verletzlich fühlte er sich, wie ein neuer Maistrieb, der gerade die Erde durchstoßen hat.
Ein alter Wacholderbaum, der aus dem roten Sandstein herauswuchs, klammerte sich an den Felsen neben ihm. Seine Zweige wanden und verdrehten sich, und lange Wurzeln hingen fünf oder sechs Körperlängen über dem nackten Fels wie Seile, doch jedem war es gelungen, eine winzige Vertiefung zu finden, in der sich windgetragene Erde und Wasser gesammelt hatten. Sängerling schaute den Baum bewundernd an. Dieser Wacholder hatten in jedem Augenblick seines Lebens um sein Überleben kämpfen müssen. Bei diesem Bild stiegen Sängerling die Tränen in die Augen. Er dachte an den alten Schwarzer Tafelberg. Vor vielen Sommern hatte er in einem Frühling Schwarzer Tafelberg in dessen Garten geholfen. Während Schwarzer Tafelberg Unkraut jätete, brachte Sängerling Töpfe mit Wasser für die jungen Pflanzen herbei.
Schwarzer Tafelberg hatte ihm eine Weile zugesehen, setzte sich dann auf der Erde zurück und sagte: »Wässere sie nicht zuviel, Junge. Die Pflanzen sind wie Menschen, sie müssen etwas Angst haben.« »Angst haben?«
Schwarzer Tafelberg hatte genickt. »Wenn die Triebe keine Angst haben, graben sie ihre Wurzeln nicht tief genug in Mutter Erde ein. Und in Dürrezeiten fliegen sie einfach weg, ohne zu kämpfen. Wenn du sie retten willst, dann mach ihnen das Leben nicht zu einfach. Zwing sie dazu, sich für das Schlimmste zu rüsten.« Er hatte Sängerling mit dem Ellbogen angestoßen. »Schmerzen machen jeden stärker. «
Sängerling strich sanft über die verkrümmten Zweige, voller Respekt vor all den Schmerzen, die der alte Baum ertragen hatte.
Sängerlings Leben war einfach gewesen. Seine Mutter hatte ihn sehr geliebt. Er war vielleicht ein einsamer
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