Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Schutzgeist.«
»Aber man sagt, daß Raben boshaft und gemein sind, daß «
Er unterbrach sie. »Wer sagt das?«
»Mein Clan. Der Ameisen-Clan.«
Mit einer Handbewegung tat Sängerling das ab. »Mir kommt er weder boshaft noch gemein vor. Hat er jemals nach dir gehackt oder dich mit seinen Krallen angegriffen?«
»Nein, er ist mir nur auf die Nerven gegangen. Wie kann ein Schutzgeist einem so lästig fallen?« Der Rabe beäugte Sängerling, als wartete er auf seine Antwort. Die Sonne glänzte in seinem linken Auge.
»Die Macht fällt einem immer zur Last, auf schreckliche oder erstaunliche Weise.« Sängerling machte eine Pause. »Schwarzer Tafelberg, ein heiliger Mann in meinem Dorf, sagte mir einmal, ich sei gut beraten, den Helfern zu lauschen, die in meine Träume steigen, andernfalls wären sie gezwungen, mir am hellen Tage entgegenzutreten, um mir ihre Botschaft zu bringen.« Er kratzte sich gedankenvoll an der Backe. »Das geht ja auch noch, wenn der Helfer ein Rabe ist, aber wenn nun eine Klapperschlange oder ein Grizzly zufällig dein -«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß mir ein Rabe jemals im Traum erschienen ist, Sängerling.« Seide betrachtete den Raben, jetzt nicht mehr gereizt, sondern eher furchtsam. Der Puls klopfte ihr in den Schläfen. »Wenn dieser Vogel wirklich ein Schutzgeist ist…«
Die Stimme versagte ihr, als sich der Rabe auf den Rand von Seides Korb schwang. Er nahm sich eine Zwiebel, spuckte sie aber aus und gab krächzend sein Mißfallen kund. Ärgerlich plusterte er sich auf. »Tut mir leid, ich hab jetzt keinen Mais«, sagte Seide entschuldigend. »Sonst hätte ich dir etwas gegeben, das weißt du.«
Der Rabe hüpfte auf den Korbgriff und blieb dort hocken, den Kopf schräggelegt, um besser zuzuhören.
Seide biß sich auf die Unterlippe. »Bist du so sicher, Sängerling? Ich habe mich nie nach Visionen gesehnt. Wieso kommt dann ein Schutzgeist zu mir?«
»Jemand im Jenseits muß gewußt haben, daß du Hilfe brauchst.« »Wer?«
Er zuckte die Achseln. »Ein toter Verwandter?« »Welcher denn?«
»Woher soll ich das wissen? Erinnert dich die Stimme des Raben an jemanden? An einen Onkel oder eine Tante? Vielleicht hat er die Augen deiner Großmutter?«
Seide beugte sich vor und betrachtete den Raben genau. »Er sieht aus wie ein Vogel, Sängerling.« »Na, vielleicht ist er kein Verwandter. Vielleicht ist er einer der Thlatsinas. Es stimmt ja auch, daß sich sogar die Großen Krieger gelegentlich verkörpern, um mit Menschen zu verkehren.« Seide sah ihn skeptisch an. »Wenn so ein Gott mir etwas mitzuteilen hätte, dann könnte er das doch in menschlicher Sprache tun?«
»Vielleicht haben Götter Dinge mitzuteilen, die in menschlicher Sprache nicht auszudrücken sind.« »Aber von mir wird erwartet, daß ich es verstehe ? Ich spreche nicht Rabisch. Das müßte ein Gott doch wissen.«
Sängerling verzog den Mund. »Hast du keinen Sinn für göttliche Mysterien, Seide? Die Götter wollen dir die Sache nicht immer leichtmachen. Es scheint ihnen im Gegenteil sogar Spaß zu machen, dir die Sache etwas zu erschweren.« Der Rabe streckte seinen Hals vor und krächzte direkt in Seides Gesicht - viermal! Dann sprang er vom Korb hinunter und flog davon, über die wellige, zerklüftete Wüstenlandschaft. Seide griff nach dem Stoff über ihrem Herzen. »Heilige Ahnen, wie mein Herz donnert.« Sängerling sah dem großen schwarzen Vogel nach, bis er hinter einer rötlichen Windung verschwunden war. »Der Rabe ist zur Großen Nordstraße geflogen.«
Plötzlich weiteten sich seine Augen. Staubwölkchen erhoben sich über den Canyon-Rand, rot abgehoben gegen das Tiefblau von Bruder Himmel. »Seide … sieh mal!«
Sie stand auf und stellte sich neben ihn, die Augen abschirmend gegen das harte Nachmittagslicht. »Meinst du - ein Läufer? Für dich?«
»Eher wohl für Düne. Es weiß kaum jemand, daß er nicht hier ist. Komm, wir wollen gehen.« Sängerling nahm seinen Korb und ging den Pfad hinunter; er machte einen weiten Bogen um dichte Kaktusbestände und sprang über gefährliche Kaninchenlöcher. Seide stapfte mühsam hinter ihm her. Als sie zum Weg kamen, der an Dünes weißem Häuschen vorbeilief, war der in stumpfes Weiß gekleidete Mann schon auf halber Höhe der Stufen, die in die Klippe eingeschnitten waren. Der Wind fuhr ihm unter sein langes Hemd, das nun Flügeln glich. Er glich eher einer Schnee-Eule, auf rotem Sandstein hockend, als einem Menschen.
Ich bin noch
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