Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
sagte Sängerling. »Ich habe mir immer einen Falken als Schutzgeist gewünscht.« »Und hast du einen bekommen?« Seide grub weiter nach Zwiebeln. Die warme Luft war vom Duft der Erde und der entwurzelten Pflanzen gesättigt.
»Nein. Gefiederte Geschöpfe haben offenbar kein -« In diesem Augenblick schoß ein großer Rabe mit angelegten Flügeln herab wie ein schwarzer Pfeil. Er verhielt gerade vor Seide und flatterte zu Boden. Sein knolliger schwarzer Schnabel war wohl so lang wie Sängerlings Mittelfinger. »Heilige Wolkenleute!« rief Sängerling fassungslos. »Nun sieh bloß, wie groß der ist.« Seide beobachtete ihn argwöhnisch. Der Rabe legte den Kopf schräg zur Seite, erst nach links, dann nach rechts.
Sängerling grinste. »Das ist doch komisch; der Kerl taucht genau dann auf, wenn ich von gefiederten Geschöpfen rede.«
Der Rabe hopste so nahe an Seide heran, daß er einen Blick in den Korb mit den Zwiebeln werfen konnte.
»Das ist doch nicht zu glauben!«
»Was?«
Sie setzte sich auf die Hacken und winkte den Raben fort.
»Geh weg! Mach, daß du weiterkommst! Weg hier! Schuu schuu!«
Der Rabe duckte sich etwas und wartete, als ob er wüßte, daß dieses unfreundliche Verhalten nicht von Dauer sein würde.
Seide betrachtete den Grabstock, packte ihn wie eine Keule, schüttelte aber dann den Kopf und seufzte. »Das kann nicht derselbe sein, der mich schon zu Hause verrückt gemacht hat.« Der Klang ihrer Stimme machte den Raben kühner. Er stolzierte um den Korb herum und spähte mit einem schwarzen Auge auf Seide. Dann hob er seinen dicken Schnabel und krächzte. Sängerling legte den Kopf schräg. »Schildkrötendorf ist einen Dreitagesmarsch nach Norden entfernt. Er kann dir doch unmöglich so weit gefolgt sein.«
»Ich weiß nicht, aber er sieht so aus wie der von damals.«
»Und womit hat er dich verrückt gemacht?«
Sie machte eine unbestimmte Bewegung. »Jedesmal, wenn ich Mais gemahlen habe, ist dieser Rabe gekommen und hat so lange gebettelt, bis ich ihm was gegeben habe.«
»Scheint mir nicht verrückt. Scheint mir schlau.«
»Na ja, mag ja sein, aber mich hat er in Schwierigkeiten gebracht. Die Leute haben getuschelt, hatten Angst, ich könnte eine Hexe sein.«
Sängerling lachte in sich hinein. »Du? Eine Hexe?«
Seide leckte sich nervös die Lippen. »Das ist gar nicht lustig, wenn die Leute hinter ihren Händen über dich reden, Sängerling. Wenn so was passiert, nimmst du es ernst.« Sie machte eine Pause. »Andernfalls kommen sie nämlich hinter dir angeschlichen, verpassen dir einen Schlag auf den Hinterkopf, werfen dich in ein Loch und schmeißen dann noch einen Felsblock hinterher.« »Dein eigener Clan könnte dich für eine Hexe halten, bloß weil ein schlauer Rabe runterkommt, um Mais zu stehlen?«
Ihr Blick war so ätzend wie Kaktussaft auf Muscheln. »Wenn die Leute Angst haben, Sängerling, dann sehen sie überall Hexen.«
Der Rabe plusterte die Federn auf, den Kopf erhoben. Sängerling starrte ihm in die kleinen schwarz glänzenden Augen. Er hatte Raben und Krähen schon so oft tagelang beobachtet und wußte, daß sie äußerst gewitzt waren. »Sängerling«, sagte Seide, »du willst lernen, ein heiliger Mann zu sein. Kannst du nicht dafür sorgen, daß er wegfliegt?«
Er kreuzte die Arme und überlegte. »Du meinst, ich soll ihn wegsingen, nach Anemonendorf zum Beispiel?«
»Ich meine, du sollst ihn wegsingen, und zwar ins Jenseits.«
Sängerling lächelte den Raben an. Die Federn schimmerten blauschwarz in der schrägstehenden Nachmittagssonne. Der Vogel hatte einen auffallend menschlichen Blick, bei dem Sängerling die Schauer über den Rücken liefen. »Seide? Sag mir mal, wie oft ist der Rabe im Schildkrötendorf zu dir gekommen?«
»Das mag ich dir nicht sagen«, entgegnete sie murrend.
»Wie oft?«
»Viermal. Das ist das fünfte -«
»Viermal«, sagte Sängerling sanft und schaute sie überrascht an. »Du weißt, das ist eine heilige Zahl. Ist dir nie eingefallen, daß der Vogel vielleicht versucht hat, dich zu warnen?«
Seide blieb der Mund offenstehen. »Wie meinst du das? Mich zu warnen? Meinst du … vor dem Überfall?«
Der Rabe hüpfte auf Pickdistanz bis zu Seides Knie und gab einen sanften Ton von sich. »Seide, warst du je auf der Suche nach einer Vision? Hast du eine Kiva-Einweihung erlebt -« »Nein.« Mit den Fäusten umklammerte sie ihren abgegriffenen Grabstock. »Niemals.« »Wie dem auch sei, ich glaube, du hast einen
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