Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Menschenflut zu entgehen.
Eisenholz trug die Leiche von Wolkenspiel zur Kiva der Ersten Menschen, die sich an die Häuser, welche die Plaza in zwei Hälften teilte, bündig anschloß. Leichten Fußes folgte ihm Düne, das wettergegerbte Gesicht von Düsterkeit überschattet. Nordlicht bildete den Schluß. Sie traten in den Altarraum, das noch oberirdische Vorzimmer zur Kiva, und verschwanden.
Federstein runzelte die Stirn. Sie forschte in den Gesichtern der Menge. »Wo ist Schlangenhaupt? Ich habe doch gehört, wie Eisenholz vorhin nach ihm gerufen hat.«
Kriecher biß die Zähne zusammen, sein Mund wurde ein dünner weißer Strich. Er haßte Schlangenhaupt - wie jeder andere, Federstein eingeschlossen. Sie hatte allerdings den Verdacht, daß Kriechers Abneigung viel tiefer saß als ihre. Sie hätte den arroganten jungen Häuptling am liebsten mit einem Schlag auf die Knie gezwungen und ihm ihren Krückstock ein paarmal um die Ohren gehauen, um ihm zu helfen, wieder ein anständiger Mensch zu werden. Kriecher freilich, so argwöhnte sie, wollte Schlangenhaupt vor seinen Augen gevierteilt sehen. Was hatte Schlangenhaupt verbrochen, um einen so sanften Menschen zu solchen Gefühlen zu treiben?
Kriecher sagte: »Die Sklaven konnten ihn nicht finden. Er ist vielleicht für den ganzen Tag zu einer der umliegenden Städte gegangen.«
»Ohne etwas zu sagen? Das klingt nicht sehr wahrscheinlich.«
Kriecher schaute aus dunklen, sorgenvollen Augen auf sie herab. »… Ich weiß.«
Sie blickten einander schweigend an, aber dann sah Federstein Spannerraupe, und ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn.
Ihr Sohn löste sich von seinen Kriegern; mit ernstem Gesicht kam er auf sie zu. Offenbar bewegte er nur noch einen Arm. Sein rotes Hemd war blutgetränkt, es klebte an seiner Brust wie eine zweite Haut. Rote Streifen waren auf seinen langen Beinen getrocknet. Sein Gesicht war von Schmerz gezeichnet. Federstein ließ Kriecher los und humpelte zu ihrem Sohn. Sie fragte ihn ruhig: »Wie ist dir zumute?« »Ach Mutter«, flüsterte er, »ich kann es nicht glauben.«
Federstein strich ihm über die blutbeschmierte Hand. »Sie hätte nicht gewollt, daß du leidest. Sie hat dich zu sehr geliebt.«
Tränen trübten seinen Blick. Er sah schnell zu seinen Männern hinüber und atmete tief ein. »Mutter, ich - ich muß Schlangenhaupt finden. Verzeih mir, aber ich habe noch Pflichten.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Bis bald.«
»Wenn du heimkommst, wartet das Abendessen auf dich.«
Spannerraupe strich ihr liebevoll über die Wangen, nickte Kriecher respektvoll zu und schritt über die Plaza. Sie sah ihm nach, bis er durch das Tor verschwunden war; der schräge Einfall der Nachtmittagssonne tat ihren Augen weh.
Sie drehte sich um. Kriecher stand dort, wo sie ihn verlassen hatte, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Federstein ging zu ihm. »Ich habe zu Hause Fichtennadeltee aufgebrüht. Trinken wir ihn gemeinsam?« »Aber gern. Ich danke dir. Wir müssen sowieso etwas besprechen.«
»Was denn?«
Kriecher ergriff ihren Arm und führte sie langsam über die Plaza, bemüht, nicht zu schnell zu gehen. Er kannte alle ihre Schmerzen und Wehwehchen auswendig - wie auch anders, da sie oft genug darüber geklagt hatte. »Es gibt da Gerede…« Er senkte die Stimme und schaute sich vorsichtig um. »Darüber, wer der Hexenmeister ist.«
»Gerede der Gemachten Menschen?«
»Gerede der Sklaven!«
Federstein kniff die Augen zusammen. Die schlimmsten Gerüchte gingen immer von den Sklaven aus. Schließlich arbeiteten sie in fast jedem Zimmer, hörten Dutzende von Unterhaltungen mit an und kannten im allgemeinen so viele Einzelheiten, daß sie sich leicht die aufregendsten Geschichten - und manchmal sogar wahre - zusammenreimen konnten.
»Was für ein Name ist jetzt im Spiel? Wieder Nordlicht?«
Den Leuten machte es offenbar Spaß, sich Geschichten über den großen Sonnenseher auszudenken, ohne Rücksicht darauf, wie sehr sie ihm damit schadeten - oder vielleicht gerade deswegen. Spannerraupe glaubte zwar jedes böse Wort, aber Federstein lehnte das ab. Vor vielen Sommern, als Spannerraupe Nordlicht der Hexerei und der Ermordung seiner eigenen Schwester beschuldigt hatte, war sie zu seiner Verteidigung aufgestanden. Als sie unter den Feuerhunden leben mußte, hatte sie viele Mädchen des Volks des Rechten Wegs gesehen, die angeblich spurlos verschwunden waren. Federstein hatte den starken Verdacht, daß
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