Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
»Du bist der Junge von Laubkatze.« Mit ihrem Stock deutete Federstein auf die Leute. »Was geht hier vor?«
»Hast du das nicht gehört?«
»Sonst würde ich dich doch nicht fragen!«
Das Kind leckte sich die Lippen und erzählte: »Der Kriegshäuptling hat Wolkenspiel gefunden. Sie ist tot.«
Federstein verharrte eine Weile fassungslos, unfähig, das zu glauben. Dann sank sie gegen die Leiter und setzte sich auf die nächste Sprosse. Ihr Herz schlug dumpf gegen die Rippen. Leise fragte sie: »Waren es die Räuber der Feuerhunde?«
Der Junge warf die Arme auseinander. »Keiner weiß es. Alle haben sie Angst, daß es ein Zauberer war. Darf ich jetzt gehen? Meine Mutter hat mich geschickt, ich sollte «
»Ein Zauberer? Warum?«
»Der Bauch von Wolkenspiel war aufgeschnitten, klaffte auseinander, und Leichenpulver war hineingeschüttet worden. Gesegnete Federstein, ich muß jetzt gehen, bevor meine Mutter -« »Ach ja, geh nur!« Sie winkte ihm zu gehen.
Der Junge stürmte davon, und Federsteins Blick glitt zur Menge zurück. Irgendwo da draußen mußte auch ihr Sohn sein. Er war sicher völlig verzweifelt, er hatte Wolkenspiel mit ganzer Seele geliebt. Vor sechs Sommern hatten Krähenbart und Nachtsonne sie in ihr Zimmer gerufen, um ihr mitzuteilen, daß sie es Wolkenspiel nicht erlaubten, Spannerraupe zu heiraten. Das hatte Federstein zornig gemacht, und sie verlangte den Grund zu wissen. Die Antwort hatte sie ihrem Sohn nie verraten. Es hatte ihr das Herz gebrochen, aber das Wissen hätte ihm alles nur noch schwerer gemacht. »Er ist zur Hälfte ein Feuerhund«, hatte Krähenbart mit hochgerecktem Kinn erklärt. »Das würde uns nicht weiter stören, aber du kennst ja die Überlieferung. Wir können es uns nicht leisten, den Prophezeiungen unserer Feinde Nahrung zu geben. Das mußt du verstehen.«
»Den Prophezeiungen?« flüsterte sie vor sich hin. »Legenden der Feuerhunde über einen geraubten kleinen Jungen?«
Die Vorhersage hatte sie immer wieder bei ihren Sommer- und Winterfeierlichkeiten gehört, als sie bei den Feuerhunden Sklavin gewesen war die Geschichte eines geraubten Kindes, das eines Tages zurückkehren würde, um das Land der Leute des Rechten Wegs zu erobern und sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien.
Krähenbarts Worte hatten sie hilflos gemacht. Als ob diese Geschichte auf ihren Sohn - einen treu ergebenen Krieger des Volks des Rechten Wegs - zutreffen könnte! Auch für die Feuerhunde war die weibliche Linie für die Abstammung bestimmend; sie würden ihren Sohn niemals als einen der Ihren anerkennen. Aber Krähenbart hatte gefürchtet, daß vielleicht andere das anders sähen. Die Turmbauer aus dem Norden bestimmten die Abstammung nach der väterlichen Linie. Sie haßten das Volk des Rechten Wegs, sie würden wahrhaft jedes Mittel benutzen, um die Gesegnete Sonne zu vernichten. Aber so viele Frauen aus dem Volk des Rechten Wegs waren von Feuerhunden vergewaltigt worden. Aus welchem Grund sollten die Turmbauer sich gerade ihren Sohn erwählen?
Federstein blickte stirnrunzelnd auf die Plaza. Spannerraupe hatte nie geheiratet. Soviel sie wußte, hatte er nicht einmal anderen Frauen den Hof gemacht. Federstein vermutete, daß Wolkenspiel immer im Herzen ihres Sohnes lebendig bleiben würde, selbst noch im Tod. Sie packte ihren Krückstock fester; in ihrer Seele litt sie mit ihm.
Tief Atem holend richtete sie sich auf und ging schwerfällig über die Plaza. Nach siebenundfünfzig Sommern mußte sie achtsam sein; sie könnte selbst bei der kleinsten Unebenheit des Bodens stolpern und fallen, und das würden die Hüften nicht aushalten.
Als sie der Menge näher kam, trat Kriecher heraus und eilte zu ihr. Federstein lächelte. Die letzten dreißig Sommer lang war er ihr ein treuer Freund gewesen. Oft besuchte er sie, und dann lachten und redeten sie miteinander. Es schien ihr, als ob er sich diese Vertrautheit öfter wünschte, aber eine Heirat mit einem der Gemachten Menschen konnte sie unmöglich in Betracht ziehen; das würde sowohl sie selbst wie ihren Sohn herabsetzen, besonders jetzt, da Spannerraupe Befehlshaber geworden war. Es wäre höchst unpassend, wenn seine Mutter, eine der Ersten Menschen von Krallenstadt, einen so rangniederen Mann vom Bison-Clan heiratete. Trotzdem liebte sie seine Gesellschaft.
Er war untersetzt und dick und watschelte, wenn er ging. Sein schwarzes Hemd wippte um seine Beine. »Ich grüße dich, Gesegnete Federstein«, sagte er. »Hast du die
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