Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
ihren Tod gewünscht haben?«
Dieser Ton verblüffte Eisenholz. Er hatte Nordlicht noch nie in so einem … und dann verstand er. Heilige Ahnen, natürlich hatte er ganz andere Sorgen. Maisfaser war kaum einen Mond nach der Wintersonnenwende geboren worden. Da hätte sich Nordlicht nicht um eine Sklavin gekümmert. Abgesehen von seinen Auftritten bei rituellen Pflichten war er den ganzen Tag, jeden Tag, bei Nachtsonne gewesen, hatte sie versorgt, mit ihr gesprochen, versucht, sie von ihren Ängsten zu befreien …
»Verzeih mir!« Eisenholz beugte das Haupt vor Nordlicht, um Vergebung bittend. »Du hast recht. Kümmern wir uns um Wolkenspiel.«
Nordlicht schien erleichtert.
Düne atmete hörbar aus.
Sie blieben eine Weile schweigend sitzen.
»Ja«, sagte Düne leise, wie zu sich selbst, »wir müssen ihm helfen, den Schmerz zu beseitigen.« Eisenholz warf dem alten heiligen Mann einen Blick von der Seite zu. »Würde ich gern, Düne. Bald. Und für immer.«
»Bist du müde?« fragte Düne mißmutig.
»Sehr.«
Düne nickte. »Sind wir alle, glaube ich. Wir wollen morgen darüber sprechen. Wenn unsere Seelen klarer sehen.« Er legte die Hand auf Eisenholz' Schulter und kam ächzend auf die Beine. »Könntet ihr beide mich morgen bei Morgengrauen hier treffen?«
»Sicher.« Eisenholz rieb sich die Augen. Nordlicht nickte. »Ich werde hier sein.«
»Dann wünsche ich euch eine gute Nacht.« Düne kletterte die Leiter hoch.
Eisenholz wartete, bis seine Schritte nicht mehr zu hören waren, und richtete dann einen forschenden Blick auf Nordlicht. Aber der sah ihn nicht an. Der Feuerschein überzog die linke Seite seines Gesichts und schimmerte auf seinem langen schwarzen Haar.
Eisenholz öffnete den Mund, um dem Freund ein paar präzise Fragen zu stellen, doch Nordlicht sagte: »Wie hat Nachtsonne die Nachricht aufgenommen? Geht es ihr gut? Ich weiß, eigentlich hätte ich es ihr sagen müssen, aber ich hatte so viele religiöse Pflichten -«
»Ich bin froh, daß du mich gebeten hast, es ihr zu sagen.« Eisenholz atmete tief ein, durch den plötzlichen Themenwechsel etwas aus der Fassung gebracht. Seine Gedanken kehrten zu Nachtsonne zurück, zu dem gejagten Ausdruck in ihrem schönen Gesicht und dem Entsetzen in ihren Augen. »Sie hat ihr Gleichgewicht verloren, Nordlicht. Ich habe sie gehalten, bis mich der Wachtposten zum Gehen zwang, aber da war sie schon eingeschlafen. Sie braucht Zeit, um den letzten halben Mond zu verarbeiten. Erst verliert sie ihren Mann, dann ihre Tochter… ihre Seele ist wund.« Nordlicht atmete hörbar aus. »Morgen wird es noch schlimmer sein.«
»Wieso?«
Der Wind hatte sich draußen zu einem Dauergeheul gesteigert, und Eisenholz hörte den Sand über die Häuser wischen. Nordlicht schaute zum Auslaß empor, als fürchtete er die Kälte, die ihn erwartete, wenn er aus diesem warmen, feuerhellen Schoß der Erde auftauchte. Er sagte: »Schlangenhaupt hat mich abgefangen, gerade bevor ich herkam. Er hat mir mitgeteilt, daß er morgen über das Schicksal seiner Mutter entscheiden will. Er beruft eine Versammlung der Ältesten des Rechten Wegs ein. Sei bereit, Eisenholz. Wer weiß, was dieser zornige junge Mann im Sinn hat.«
»Werde ich dazu eingeladen? Ich gehöre nicht zu den Ersten Menschen, ich bin auch nicht mehr Kriegshäuptling. Darum zu bitten, habe ich kein Recht.«
»Ich werde beantragen, daß du Nachtsonne bewachst; vielleicht ist Schlangenhaupt damit einverstanden. Vielleicht auch nicht. Wenn nicht, dann begleitest du mich, als mein Leibwächter.« »Ich bin bereit.«
»Gut. Bis dann.« Nordlicht stand auf, strich im Vorbeigehen über Eisenholz' Schulter und kletterte die Leiter hinauf.
Eisenholz blieb reglos sitzen.
Es war so viel geschehen, daß er nicht alles einordnen konnte.
Jetzt mußte er selbst Pläne machen. Die Ältesten verurteilten Nachtsonne möglicherweise zum Tod; in diesem Fall mußte er wissen, wie er sie aus Krallenstadt hinausschaffen könnte …
Nordlichts weißes Priesterhemd leuchtete im Sternenlicht, als er über die leere Plaza schritt. Krallenstadt ringelte sich um ihn herum wie in einer gigantischen Umarmung. Nächtliche Laute waren vernehmbar -Husten und Schnarchen, weinende Babys und Hunde, die über ungewohnte Geräusche knurrten. In irgendeiner Kammer spielte jemand Flöte. Die süße Melodie schwebte über die Stadt wie glitzerndes Juwelengefunkel. Er versuchte, nur noch auf die beruhigende Musik zu hören, aber es gelang ihm nicht.
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