Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
schneidenden Schreie meines Leidens und des Leidens der Welt.
Eine Zeitlang dachte ich, diese Schreie würden mich zum Wahnsinn treiben.
Dann hörte ich meinen Namen flüstern. Leise. Kaum hörbar.
Die Toten riefen mich nicht aus den Unterwelten an, sondern sie sprachen zu mir aus dem Knistern der Kiefernnadeln heraus. Sie blickten nicht aus den Himmelswelten auf mich herab, sondern lächelten mir aus dem Tautropfen zu, der bedenklich auf einem Grashalm zitterte.
Sie erzählten mir, ich sei niemals allein gewesen. Keinen Augenblick lang.
Jede Seele ist ein Faden im Gewebe der Welt. Um meine Verwandten zu sehen, brauche ich nur ins flimmernde Wasser zu blicken und ins tauschimmernde Gras. Die Tänze der Toten sind wie Stäubchen aus Licht, ihre Stimmen wie seufzende Steine.
Meine Lieben sind alle um mich herum.
Ich wende mich um nach Osten, und da sehe ich die Toten im Licht, das allmählich zum Leben erwacht. Sie überklettern den felsigen Horizont wie eine goldfunkelnde Horde und laufen über das Land, zausen das Gras und spielen in den sich wiegenden Kiefern.
Ich erschauere und wundere mich über meine Blindheit.
Der Tod ist ein schweigender, aufmerksamer Partner in allem, was lebt.
Natürlich gehen die Toten nicht fort. Sie sind das Gewebe, das die Wunden der Welt verbindet. … Meine Wunden.
30. K APITEL
Maisfaser marschierte am Rand der Mesa, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten; vorsichtig setzte sie ihre Yucca-Sandalen auf, um den stachligen Kakteen auszuweichen. Vater Sonne glitt hinter eine Kuppe im Westen, und ein glänzender Kreis rahmte den roten Steinturm ein. Die Wolkenleute leuchteten, orangefarben strahlende Wölkchen, die durch ein türkisblaues Meer segelten. Die Schatten über dem zerwühlten Land wurden länger, schnitten durch strauchbewachsene Gräben und verbanden sich mit den erodierten rostfarbenen und gelben Tonsedimenten. Maisfaser lächelte und schlang die Arme um sich. Der Windjunge stürmte winselnd von Norden heran und ließ das lange Haar über ihre Schultern flattern. Sängerling sagte, sie würden morgen Krallenstadt erreichen. Sie wollte diesen Abend der Freiheit noch auskosten. Vielleicht gäbe es nicht mehr viele für sie. Sie badete in der Wärme der untergehenden Sonne, und das tat ihr wohl. Sie ließ sich Zeit und hob scharfe Feuerstein- und Obsidian-Späne auf, Überreste der Arbeit eines Mannes, der in der Vergangenheit an dieser Stelle Steinwerkzeuge behauen hatte.
Die freistehenden Sandstein-Vorsprünge waren bequeme Aussichtspunkte, von denen aus man einen guten Überblick über das ganze Umland hatte. Am Fuß der Mesa glitzerte eine kleine Quelle, umwachsen von Lieschkolben und drei verkümmerten Kiefern. Sängerling kroch in ihr Lager neben dem Wasserlauf. Er hatte Feuer gemacht, eine Teekanne und einen Wasserkessel darüber gesetzt. Sie wollte hinuntergehen und ihm bei der Zubereitung des Abendessens helfen. Aber nicht sofort. Noch eine Weile wollte sie den Wind in ihren Haaren fühlen und sich von der Aussicht über ein unendlich weites Land beleben lassen. Außerdem wollte sie nachdenken.
In den letzten Tagen hatte sie sich angestrengt bemüht, die Aussagen ihres Vaters und ihrer Mutter zu einem Ganzen zusammenzufügen und auch das, was Spannerraupe in der Nacht der Zerstörung von Lanzenblattdorf behauptet hatte. Sie sah die Geschehnisse jetzt etwas klarer und erkannte, was an ihren ursprünglichen Folgerungen falsch gewesen war. Spannerraupe hatte tatsächlich nach einem Jungen gesucht und behauptet, Nachtsonne sei die Mutter. Er hatte Nordlicht beschuldigt, Vogelkinds Vater zu sein, und er hatte wirklich überzeugt geklungen. Aber als Großer Sonnenseher von Krallenstadt hätte Nordlicht bestimmt von dem Befehl, Vogelkind zu töten, gehört, und schnellstens einen Boten zu Palmlilie gesandt, um ihn zu warnen. Oder er hätte jemanden angestellt, um entsprechende Signale über die Straßen weiterleiten zu lassen. Das hatte er nicht getan. Warum würde Nordlicht den Tod seines Sohnes in Kauf nehmen? Die Ersten Menschen hatten viele Hilfsquellen. Er hätte also eingreifen können.
Die einzige Antwort, die ihr einleuchtete, war, daß Nordlicht den Ausgang der Kämpfe nicht gefürchtet hatte. Irgend jemand hatte es irgendwie fertiggebracht, Spannerraupe zur Hinrichtung eines Jungen zu verleiten … um ein Mädchen zu schützen. Deswegen war keine Warnung gekommen. Ihre Mutter hatte ihr die Wahrheit gesagt.
Es machte sie schwindlig und
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