Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
nahm seine Teetasse und spielte damit.
Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. »Aber du bist so liebenswert, Sängerling. Das paßt nicht zusammen. Warum hattest du keine Freunde in deinem Alter?«
»Ach, ich weiß nicht. Schwarzer Tafelberg meinte, sie würden die Macht in meinen Augen nicht verstehen, aber ich habe immer geglaubt, es läge daran, daß ich nichts machen konnte, was die anderen Kinder für wichtig hielten.«
Stirnrunzelnd sah er auf den Bodensatz in seiner Tasse. Genau besehen konnte er überhaupt nichts machen, was für irgend jemand wichtig war - außer singen. Seine tiefe, volltönende Stimme hatte ihm Ruhm eingebracht… aber keine Freunde.
Seide rutschte ein wenig zur Seite, und er schaute auf. Hinter ihr segelten dunkle Wolken über die Spitzen der Kiefern hinweg, geräuschlos wie die Schatten der Götter. Die Nachttiere gingen jetzt auf Beutejagd. Das melodische Geheul jagender Coyoten wurde vom Echo zurückgeworfen. »Was konntest du denn nicht?« fragte Seide.
Sängerling lächelte, über sich selbst belustigt. »Also, zunächst mal sahen meine Steinwerkzeuge so aus, als hätte sie ein fünf Sommer alter Junge täppisch zusammengehauen. Jedes Mädchen im Dorf konnte schneller laufen als ich. Ich hätte keine Wachtel mit einem Stein erledigen können, und wenn ich direkt über dem Vogel gestanden hätte. Immer, wenn es einen Kampf gab, hat mich mein Gegner halb totgeschlagen. Dabei habe ich gewinnen wollen, Seide.« Sie lächelte, und er fuhr fort: »Aber vor allem, glaube ich, haben mich die anderen Kinder nicht gemocht, weil ich so ein Einsiedler war. Mir war die Gesellschaft von Insekten und von Feigenkakteen immer lieber als die von Menschen.« Seides Augen gewannen an Tiefe, und sie schienen dunkler zu werden, leuchtend wie riesige schwarze Monde. Ein junger Mann konnte sich in diesen Augen verlieren und sich wünschen, nie wiedergefunden zu werden. Ein Prickeln überlief Sängerling und endete in den falschen Bahnen - falsch jedenfalls nach Dünes Lehren. Er hörte die Stimme des kleinen Tyrannen in seiner Seele: »Wenn du eine Quelle der Hoffnung für dein Volk werden willst, dann laß deinen Körper los. Das Fleisch fühlt sich vielleicht weich und warm an, ist aber der machtvollste Käfig in der ganzen Schöpfung, stärker als Steinmauern zwanzig Hände dick. Laß ihn los… «
Sängerling lächelte verlegen und schaute beiseite. Vielleicht war er deshalb fast sein ganzes Leben einsam geblieben: weil es so sein sollte.
Seides Blick wanderte zum Himmel. Die ersten Abendleute waren erwacht, und silberne Funken stoben in die Nacht. Von der Seite sah sie noch zarter und schöner aus. Ein Scheit knackte im Feuer, und der Lichtblitz überstrahlte ihr Gesicht und ihr Haar mit einem hochroten Schein. Ihre Zehen krümmten sich gegen die Sandalensohlen. Sie schaute weiter zum Sternenhimmel auf. »Ich bin auch gern allein.«
»Wirklich?«
»Na ja, nicht dauernd. Ich bin ganz gern mit Leuten zusammen, aber wenn ich allein sein will, dann brauche ich es wie eine Frau, die Hunger hat und etwas zu essen braucht.«
Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß jemand anders in der Welt die Einsamkeit so zielstrebig und verbissen suchte wie er. »Es ist schwer, nicht wahr?« Ihre Augen trafen sich. »Wirklich allein zu sein. Ich meine, auch wenn du ganz allein bist, dann denkst du doch auch an andere, und das heißt, in deiner Seele bist du nicht wirklich allein.«
Ein Windstoß blies ihr das lange, schwarze Haar auf den Rücken. »Ja, es ist schwer. Hauptsächlich, weil die Clans das Alleinsein verhindern. Da sind so viele, da ist immer jemand, der dich schickt, einen Korb mit Reisgrassamen zu holen oder einen Wassertopf oder mehr Mais zu mahlen. Wenn du aber fortkommst und auf dem Hügel sitzt, um den Gesang des Zaunkönigs zu hören, dann tadeln sie dich, weil du Zeit verschwendest. Dann sagen sie dir, daß du faul bist und dich nur drücken willst und daß du dich schämen sollst.« Sie blickte ihn ernst an. »Deswegen ist ein Freund so wichtig, Sängerling. Der ist wie ein Schild. Der sorgt dafür, daß du hier und da auf einem Hügel sitzen kannst.« »So hab ich das nie gesehen. Ich hab mir auch nie vorstellen können, daß ein anderer meine Seele verstehen kann. Hast du so eine Freundin gehabt, Seide?«
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ja.«
Sängerling hätte sie am liebsten gestreichelt, um ihren Schmerz zu lindern; statt dessen packte er seine Teetasse fester. »Wie hieß sie
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