Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
küßte sie liebevoll auf die Stirn.
»Schlaf gut, Gesegnete Federstein«, flüsterte er und tätschelte ihr die Schulter.
Spannerraupe wirkte seltsam geistesabwesend, als er scheinbar gleichgültig sagte: »Schlangenhaupt hat mir erzählt, daß er seine Mutter töten will.«
Kriecher fuhr entsetzt herum. »Selbst wenn sie ein Kind geboren hätte, würde keiner der Ersten Menschen ihren Tod wollen. Das weiß ich.«
Spannerraupe rieb sich die wunde Schulter; ihm war schlecht. »Ich bete, daß du recht hast. Aber wer von denen wird den Mut haben, der neuen Gesegneten Sonne zu widersprechen?«
Kriecher setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Felle, und seine Schultern sackten nach vorn ab. Er dachte eine Weile nach und sagte dann: »Geh doch schlafen, Spannerraupe. Heute nacht können wir sowieso nichts mehr unternehmen. Und du hast genug Schläge in den letzten Tagen hinnehmen müssen. Ich bleibe noch etwas hier sitzen und wache über Federstein.« Spannerraupe sah Kriecher dankbar an. In den Zeiten ihrer Abwesenheit würgte sie manchmal nach dem Essen, dann konnte sie nicht mehr schlucken und nicht mehr atmen und brauchte jemanden, der für sie da war. »Ich danke den Geistern, daß du in unser Leben getreten bist, Kriecher. Ich weiß nicht, was wir ohne dich gemacht hätten.«
Kriecher lächelte. »Geh schlafen, Kriegshäuptling.«
Spannerraupe nickte und streckte sich auf seiner Seite auf den weichen Fellen aus. Seine Glieder waren wie Granit.
Er hörte, wie Kriecher aufstand und spürte, wie eine Decke über seine Schultern gebreitet wurde. Es war nicht mehr zu zählen, wie oft Kriecher das getan hatte, und was auch immer ihn quälte, diese Freundlichkeit milderte den Schmerz.
Kriecher setzte sich wieder an das Kopfende von Federsteins Schlafmatten und zog ein fein gestaltetes Malachit-Figürchen und einen Quarzit-Stechmeißel unter seinem Umhang hervor. Da saß er im tiefroten Glutlicht und meißelte an seinem Figürchen. Aber Sorgen zerklüfteten seine Stirn. Der Schlaf übermannte Spannerraupe auf der Stelle.
… Er befand sich wieder oben auf der Mesa. Die Morgensonne fiel schräg auf ihn, heizte den hellbraunen Stein auf und weckte ihn; mit Wolkenspiel lag er in der Decke eingerollt. Als er sich bewegte, wachte sie auf und lächelte ihn an. Liebe und Freude leuchteten ihr aus den Augen. In dieser Nacht hatten sie sich zum ersten Mal geliebt. Das schwarze Haar rahmte ihr schönes Gesicht wie in einem dunklen Kreis ein. Er berührte es scheu und beugte sich herab, um sie zu küssen …
Kriecher blieb bis tief in die Nacht neben Federstein sitzen, so wie schon hundertmal zuvor, und lauschte den Wortfetzen, die sie von sich gab, Wörter, die keine Empfindung in ihm auslösten: »Stimmen, die brüllen… Schmerz. Schmerz in meinem Herzen. Junge Frau … ein brennendes Dorf… sie kommen … um mir weh zu tun… sie bringt soviel Schmerz mit… auf dem Rücken des Bären. Sie reitet auf einem riesigen Bären!«
»Dasselbe Mädchen?« fragte er leise. »Das du schon im letzten Mond gesehen hast?« Federsteins dunkle Augen öffneten sich weit und starrten auf etwas, was Kriecher nicht sehen konnte. Es schien ihr schreckliche Angst zu machen, sie schauderte. Liebevoll zog er die Decke hoch und steckte sie unter ihrem faltigen Hals fest.
»Ich laß nicht zu, daß sie dir etwas tut, Federstein«, sagte er zärtlich. Dann blickte er auf Spannerraupe, der schlief, und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand ins Ohr: »Und was ist mit mir? Siehst du auch etwas über mich?«
Ihre Lippen bewegten sich.
Kriecher beugte sich tiefer hinab, sein Ohr berührte fast ihren Mund.
»… Die Toten«, murmelte sie. »Sie rufen nach dir.«
F ÜNFTER T AG
Die Toten gehen nicht fort.
Mit untergeschlagenen Beinen sitze ich auf dem flachen Stein, nackt im kalten Wind des Morgengrauens, der durch die verkümmerten Kiefern säuselt. Vater Sonne schläft unter dem östlichen Horizont, aber ein zarter blauer Schein überzieht die Welt. Ich schaue über ein unendliches Panorama blauer Höhen. Sie winden sich über das Land wie miteinander verknotete Stoffbahnen. Während ich noch schaue, fliegen die silbernen Vermittler der Abendleute, die letzten Sternschnuppen, herab, um mit Unserer Mutter Erde zu verhandeln.
Den ganzen Tag bin ich verzweifelt einsam gewesen; ich habe meine Mutter, meinen Vater und meine Freunde vermißt. Ich fürchte die Einsamkeit. Es ist nicht still. Aus dieser Einsamkeit tönen die
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