Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
schwach.
Und wenn sich herausstellte, daß Nordlicht ein Zauberer war - was sollte sie dann tun? Sie konnte sich keinem Zauberer offenbaren. Und was war mit Nachtsonne? Tot? Ermordet, weil sie sich des Inzests schuldig gemacht hatte? Oder verbannt?
Sie rieb mit der Spitze ihrer Sandale über einen leuchtend bunten Stein. Vielleicht würde Nachtsonne wünschen, sie wäre tot, weil sie das Kind einer inzestuösen Verbindung war. Vielleicht hatte sie Maisfaser gleich zu Anfang schon weggeschickt, weil sie den Anblick ihres unehelich gezeugten Kindes haßte …
Sängerling beobachtete sie vom Lager aus. Seide ging mit gesenktem Kopf einher, mit fliegenden Haaren, die langen hellbraunen Beine im bernsteinfarbenen Dämmerlicht schimmernd. Ihr grünes Kleid schloß sich eng um den schlanken Körper. Sie schien sehr traurig zu sein.
»Sie braucht Zeit, allein«, murmelte er zu den Kiefern, die sich um ihn herum im Wind wiegten. »Zeit zur Heilung.«
An der Oberfläche schien sie vielleicht tapfer, aber in der Tiefe ihrer Augen saß eine so furchtbare Verzweiflung, daß er sehr besorgt war. Seit der Verheerung ihres Dorfs war erst ein Mond vergangen; es würden sicher noch mehr Monde vergehen müssen, bis ihr Leid verging.
Ich bete darum, daß sie Verwandte in Krallenstadt findet. Daß die ihr einen Unterschlupf und eine neue Familie bieten. Aber er gestand sich ein, daß sie ihm fehlen würde, wenn sich ihre Wege trennten. Trotz ihres inneren Aufruhrs brachte sie es fertig, ihn zum Lächeln zu bringen. Aber nicht nur ihre Schönheit und ihr Humor zogen ihn an; in ihr war Macht, tief verborgen, wie der Gewittervogel, der im Nest sich auftürmender Wolken schläft. Sängerling hatte das Gefühl, daß diese Macht, wenn sie erst einmal erwacht war, die Himmelswelten zum Erzittern bringen würde. Er streckte sich im roten Sand auf der Seite liegend aus. Er hatte ihrer beider Decken auf eine moosige Fläche unter der größten Kiefer hingeworfen, aber ein Feuer zwei Körperlängen weiter gemacht, in einer tiefen Sandmulde, um die Flammen vor dem Wind zu schützen. Kiefernnadeln bedeckten den Boden und schimmerten auf dem Grund des kleinen Teichs. Kühles, klares Wasser gurgelte aus einem Spalt im roten Sandstein hoch und schuf einen kleinen Sumpf, zehn Hände im Durchmesser. Die Lieschkolben waren gerade hochgeschossen. Grüne Blätter wagten sich zaghaft durch die Wasseroberfläche.
Die vorherrschenden Winde hatten die drei Kiefern ostwärts geneigt. Kein Wunder, daß die Westseite der niedrigen Mesa so verkümmert aussah. Hervorstechende Steinhöcker zeigten zum Himmel, und tiefe Furchen schnitten durch die braune und rote Erde. Auf einer flachen Sandsteinwand oberhalb der kleinen Quelle beobachtete ihn ein Wasserwesen; es war von kundiger Hand in den Stein gemeißelt, hatte ein spiralförmiges Gesicht mit einem Kopfschmuck aus Sonnenstrahlen und einen quadratischen Körper. Seine zackigen Arme ahmten Blitze nach.
Sängerling nahm einen Stock und schürte das Feuer. Funken stoben auf und wirbelten im Wind davon. Hier lebten Geister. Sängerling spürte sie ringsherum atmen.
Er senkte den Blick auf die gierigen Flammen und sagte ein stilles Gebet, in dem er den Geistern dankte, daß sie ihm und Seide erlaubten, die Nacht hier zu verbringen. Kiefernäste gaben ihm rauschend und schwankend Antwort.
Mit dem Schulterblatt eines Hirsches schaufelte Sängerling mehr Glut um den geschwärzten Topf und holte dann aus seinem Bündel ein Täschchen mit Bienenkraut, gemischt mit getrockneten Zwiebeln. Das schüttete er in den Topf. Als es zu sprudeln anfing, fügte er eine Handvoll Maismehl hinzu und rührte die Suppe mit einer Holzstange um. Zwei Tassen, Schalen und Hornlöffel hatte er schon fürs Abendessen zurechtgelegt. Es war ihm seltsam zumute, er fühlte sich wie die Flaumfeder eines Adlers, die ein Sturmwind zu Boden peitscht. Während der langen Fastentage war etwas in ihm vorgegangen. Er konnte nicht genau sagen, wie und wann der Wandel sich vollzogen hatte, aber nun war er ausgeglichen und furchtlos. Als wäre seine Seele in einem Augenblick gealtert und gereift. Er fragte sich, ob ihm unbemerkt das Herz einer Wolke zugewachsen wäre und ob er nun auf dem Winde gehen könnte. Er rieb seine Finger im warmen Sand, überlegte und wünschte, er wüßte, was das bedeutete. Seit einem halben Mond hatte ihn sein Vater nicht mehr in seinen Träumen besucht, obwohl er auf dem heiligen Pfad zum Vorsprung der Türkis-Höhle
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