Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Gegen die grelle Morgensonne schirmte er die Augen ab. Düne hatte Sängerling angewiesen, nicht zu sprechen, nicht einmal zu denken. »Sammle Beifuß, weiter nichts,« hatte er gesagt.
Der Mann kam näher gelaufen; Sängerling konnte sein rotes Hemd mit einem Gurt um die Hüften und den wunderbaren Türkis-Anhänger um den Hals erkennen.
Sängerling schaute mit zugekniffenen Augen auf den schlafenden Heimatlosen. Er versuchte, das Wort Düne mit den Lippen zu formen.
Nichts rührte sich.
Er rückte näher heran und flüsterte: »Düne?«
Immer noch nichts.
Zu Dünes Füßen rieb er seine Zehen in den Sand, um ein Geräusch zu machen. Dünes Lächeln blieb unverändert. »Eh… Düne? Da kommt ein Mann.«
Düne machte ein Auge auf. »Was bist du doch für ein Dummkopf! Hab ich dir nicht gesagt, es sei die Aufgabe des Sängers zu sehen! Nicht zu schwätzen!«
»Na ja, ich habe gedacht, ich schwätze besser, bevor du niedergetrampelt wirst.« Sängerling hob den Arm. »Er kommt schnell heran.«
Düne hob seinen weißen Kopf und schaute durch Augenschlitze auf dem Mann, der auf ihn zugelaufen kam. »Ah«, sagte er seufzend. »Schlechte Nachrichten.«
Sängerling runzelte die Stirn. Wie konnte er das wissen?
Düne setzte sich auf und wartete.
Als der Mann vor ihnen anhielt, verbeugte er sich tief. »Ich hoffe, dich wohlauf zu sehen, heiliger Heimatloser.«
»Ich bin wohlauf, Eisenholz. Was -«
»Eisenholz!« stieß Sängerling hervor. »Der - der berühmte Kriegshäuptling von Krallenstadt?« Düne brüllte: »Du Schwachkopf! Eisenholz ist ein Mensch wie jeder andere. Mit Ausnahme von dir. Du bist Hundepisse!«
Sängerling zuckte gekränkt zusammen. Man wußte nie genau, ob Düne das, was er sagte, auch wirklich ernst meinte. Gestern abend hatte er Sängerling »schleimigen Packrattenkot« genannt und dann seine Freude darüber ausgedrückt, daß Sängerling sich entschieden hatte, am Läuterungsprozeß seines Volkes teilzuhaben.
Sängerling rückte vor und fragte: »War das eine Beleidigung?«
Eisenholz war ein breitschultriger, muskulöser Mann, mit einem wettergegerbten Gesicht, das sich im Laufe der Jahre durch Sorgen und Kriegführen verhärtet hatte. Staub lag auf seinem roten Hemd, und die Mokassins waren nach dem Marsch verschmutzt. Doch der kräftige schwarze Bogen über seiner Schulter glänzte wie eingewachst, und die Pfeile in seinem Köcher schienen neu befiedert. Ein schmaler Knochendolch hing neben einer Kriegskeule mit Steinkopf an seinem Gürtel. Der große Türkis-Anhänger hatte die Form eines laufenden Wolfs.
Der Krieger schaute auf Sängerling, als sei dieser vielleicht nicht bei Verstand, und sagte: »Düne -« »Was gibt's, Eisenholz?«
»Die Gesegnete Sonne liegt im Sterben, und er wünscht dich an seiner Seite.«
Düne sah ihn unmutig an. »In welcher Eigenschaft? Wie ich sehe, bietest du mir keine Mischung aus gemahlenem Türkis und blauem Maismehl.«
Sängerling lauschte gespannt. Wenn jemand starb, sandte die Familie dem Sänger, den sie sich an der Seite des Sterbenden wünschte, um ihm beizustehen, diese Mischung. Wenn der Sänger - oder die Sängerin - sie annahm, erklärte er oder sie damit die Bereitschaft, die gefährlichen irdischen Aufgaben - Waschen, Ankleiden und Beerdigen der Leiche - zu übernehmen, aber auch die spirituelle Aufgabe, die Seele auf ihrem Gang ins Jenseits mit Gesängen zu begleiten. Das Gemisch wurde später über die Leiche ausgestreut, um sie von Sünden zu reinigen, bevor der Trauerzug zur heiligen Straße aufbrach. Eisenholz zögerte. Er wollte vor seiner Antwort offenbar erst Dünes Ausdruck prüfen. »Nein, Ältester. Die Gesegnete Sonne verlangt nur deine Anwesenheit. Das ist alles.«
»Da bist du sicher?«
»Meine Befehle habe ich von seinen Lippen, heiliger Heimatloser.«
Düne rieb sich nachdenklich das Kinn. »Er ist also noch nicht tot?«
»Er ist kurz davor«, antwortete Eisenholz. »Als ich ihn zuletzt gesehen habe -«
»Dann geh!« Düne winkte mit seiner durchscheinenden alten Hand. »Wenn er nicht tot ist, gibt es nichts, was ich für ihn tun kann. Sag Krähenbart, das ließe ich ihm ausrichten.« Er fiel auf den Sand zurück, verschränkte die Hände über dem Bauch und schloß die Augen. Der Sonnenschein vertiefte seine Falten.
»Ältester«, sagte Eisenholz, »die Gesegnete Sonne liegt im Sterben. Das ist kein Ersuchen. Er gibt dir den Befehl, anwesend zu sein.«
»Er macht sich nur wegen der Verwandten Sorge. Sag ihm,
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