Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
gelegt. Eine Weile sah er sie nur an. Dann sagte er tröstend: »Du darfst nicht so traurig sein. Es würde deine Familie sehr schmerzen, wenn sie wüßte, daß du so leidest. Ich weiß, du vermißt sie. Aber du wirst sie wiedersehen.«
»Bist du sicher?«
Er lächelte sie ermutigend an. »Aber ja. Ich bin in den Unterwelten gewesen, ich bin in den Himmelswelten gewesen. Ich bin unter Generationen unseres Volks gewandelt. Ich weiß, daß unsere Verwandten leben.«
Maisfaser starrte auf einen Grashalm neben ihrer rechten Sandale und dachte nach. Sie und Sängerling hatten kurz nach Tagesanbruch ein Rinnsal überquert, und jetzt klebte Schlamm an ihren Yucca-Sandalen und den Schnürsenkeln. »Was machen die Leute da? Im Jenseits?«
Nordlicht schnippte ein abgeblättertes Verputzstück fort, das vom Windjungen in dieses Nest zwischen den Felsbrocken getragen worden war. »Einmal habe ich einen alten Mann in der Rußwelt angetroffen. Er war ein Weber. In seinem Erdenleben war er ein durchschnittlicher Weber gewesen. Niemand hatte sein Werk je gelobt oder getadelt. Aber nach hundert Sonnenkreisen in der Rußwelt waren seine Webereien sehr begehrt; wenn die Rede auf ihn kam, flüsterte man nur noch. Du mußt verstehen, er hatte in der Unterwelt mit ganz anderen Fäden zu tun. Er konnte einen Purpurstrang aus den Schwanzfedern der Regenbogen-Schlange ziehen und ihn mit einem Haarstrang von Bruder Himmel verweben, mit Fäden vom reinsten, frischesten Gelb, aus Salbeiblütenblättern gezogen.« Sein Blick wurde ganz weich, als sähe er wieder diese herrlichen Farben. »Ich versichere dir wahrheitsgetreu, Seide, unsere Familien sind im Jenseits sehr geschäftig und sehr zufrieden. Sie jagen und fischen und lieben einander, genauso wie wir hier.«
Die Wärme seiner Stimme besänftigte Maisfasers Seele wie kühler Balsam auf einer entzündeten Wunde. Aber kleinmütig fragte sie: »Und die Geister überfallen einander, genauso wie hier?« Nordlicht schaute auf zu einem Falken, der über dem Canyon-Rand kreiste. »Ja, ich sah auch Kriege. Aber sie wurden nicht aus Rache geführt, Seide. Nach allem, was du erlebt hast, wirst du kaum verstehen können, daß im Kriegführen auch ein sportliches Element enthalten ist. In der Rußwelt sind Kriege wie Spiele, so wie Reifenschlagen oder Würfeln oder Knochenwerfen. Nach dem Kampf laden die Gewinner die Besiegten zu einem Festessen ein.«
Maisfaser kratzte den verkrusteten Schlamm von ihren Sandalensenkeln ab und schnippte ihn auf den goldenen Sand. »Ich hoffe, die Krieger, die meine Familie getötet haben, müssen in den Unterwelten immer wieder von neuem sterben.«
»Der Gesegnete Bären-Thlatsina sagte mir einmal, daß ein grausamer Krieger nach seinem Tod von den Erdgeistern über das Antlitz der Erde gejagt wird, und wenn sie ihn gefangen haben, können sie Löcher in seine Seele fressen.«
Maisfaser rieb sich über die Augen. Bei der Vorstellung von Geistern mit löchrigen Seelen runzelte sie die Stirn. »Und was geschieht mit bösen Kriegern im Jenseits?«
»Sie werden von den anderen Geistern dort gequält. Denn, siehst du, an den Löchern in seiner Seele erkennen die Geister genau, ob einer aus Boshaftigkeit getötet hat oder in Erfüllung seiner Pflicht, und im ersteren Fall ächten und hetzen sie ihn, bis er wiedergeboren wird.«
Maisfaser hatte davon geträumt, Spannerraupe und Stechmücke zu töten. Nordlichts Geschichte gab ihr die Hoffnung auf eine neue Chance in einem zukünftigen Leben, falls sie es in diesem nicht schaffte. »Ich hoffe nur, diese Krieger werden als Moskitos auf meinem Arm wiedergeboren.« Nordlicht kratzte sich gedankenvoll die Wange. »Nun, jeder hat seine persönliche Vorstellung vom Martern. Ich würde sie mir, wiedergeboren, gern als buschschwänzige Waldratten vorstellen, gejagt von allem, was lebt, immer in Angst, immer auf der Flucht.«
Maisfaser sah ihn von der Seite an. »Eine gute Anregung, vielen Dank.«
Er lächelte.
»Nordlicht! Du bist sehr lieb zu mir, aber ich weiß, du bist der größte lebende Priester und -« »Bin ich das?«
»Das sagen alle.«
»Die Leute sagen viel.« Er griff nach einem losen Faden im Ärmel seines weißen Priesterhemdes, durch das Lob offensichtlich in Verlegenheit gebracht.
Maisfaser zögerte eine ganze, bedrückende Weile, bis sie sagte: »Darf ich dich etwas fragen ?« »Natürlich.«
»Es ist aber« - sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen »eine peinliche Frage.« »Das wäre
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