Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Freundlichkeit behandelt. Aber vielleicht kannte Düne Sängerling nicht so gut. Kühn wandte sie sich wieder an Nordlicht. »Was war das, was Düne Sängerling nicht sagen wollte? Über die Liebe?«
Nordlicht lächelte. Der Windjunge warf ihm das lange Haar über die Augen, und er steckte es hinter den Ohren fest. »Ach, hauptsächlich, daß Liebe für jedes geistige Leben ganz wesentlich ist.« »Aber nicht für Sänger, habe ich gedacht. Da wäre sie verderblich.«
»Nein, nein, Seide. Bis die Liebe eine Seele erregt und belebt hat, gleicht sie einem Adler, der noch nicht flügge ist. Sie ist nur halb lebendig. Noch voller Sehnsucht. Du mußt mir glauben, daß eine Seele, die die Tiefen der Liebe nicht kennt, nie zu den Göttern fliegen wird. Die Schwingen eines Sängers werden aus Liebe gewoben.«
»Sängerling… er - er glaubt wohl, daß es für ihn ungünstig ist, mit mir zusammenzusein.« Einen Augenblick lang ging Nordlichts Blick ins Leere, als hätte er sich in Erinnerungen an eine andere Zeit verloren, an eine Zeit der Zärtlichkeit, voller Hoffnungen und Träume.
»Seide«, sagte er schließlich, »lieben heißt, die Götter zu suchen Wenn wir als kleine Kinder zum ersten Mal Liebe in uns spüren haben wir schon einen Fuß auf die göttliche Straße gesetzt. Und danach ist jeder Augenblick, den wir liebend verbringen, ein weiterer Schritt zu den Göttern. Bis zu dem letzten Augenblick, wenn wir den Boden verlassen und fliegen.«
»Und warum darf Sängerling nichts davon erfahren?«
Er senkte den Kopf. »Zur rechten Zeit wird Düne ihn belehren. Jetzt versucht Düne, Sängerling dazu zu bringen, über seinen Körper hinauszusehen. Das ist der erste Schritt für jeden Sänger, und in Sängerlings Alter ist das keine einfache Sache. Vielleicht solltet ihr wirklich im Augenblick noch nicht Zusammensein. Aber eines Tages, sehr bald, wird er deiner Liebe bedürfen, so dringend, wie er Nahrung oder Wasser braucht.«
Maisfaser zerknüllte den Stoff ihres Kleides mit unruhigen Fingern. »Mir ist jetzt wohler, da ich das weiß. Vielen Dank, Nordlicht. Ich verspreche dir, daß ich Sängerling so lange nichts davon sagen werde, bis Düne das selbst erledigt hat.«
Er berührte ihre Hand, um ihre nervösen Hände zur Ruhe zu bringen. »Ich weiß das, Seide. Ich sehe dein Ehrgefühl auf deinem schönen Gesicht.«
Maisfaser lächelte. Wie seltsam, daß ihre Unterhaltung so mühelos vonstatten ging wie unter alten Freunden. Von der Senke unten drang Gelächter, ein Kind quietschte vor Vergnügen, und ein Hund bellte.
Nordlicht raffte sich auf. »Also, dann wollen wir mal zu den Mitgliedern vom Ameisen-Clan sprechen, die hier leben. Vielleicht finden wir Verwandte von dir, noch bevor die Nacht einfällt.« Er reichte ihr die Hand. Sein weißes Hemd bauschte sich um seinen hochgewachsenen Körper.
Maisfaser betrachtete kurz seine langen Finger und dachte:
Könnte dieser Mann mein Vater sein? Sie ließ sich von ihm hochziehen. Als ihre Blicke sich trafen, wurde ihr das Herz schwer. Sie hatte ihm so vieles zu erzählen, hatte so viele Fragen. Aber sie mußte erst absolut sicher sein, bevor sie sich ihm entdeckte.
Er wies zum Pfad. »Geh voraus, ich komme nach.«
Maisfaser ging zwischen den Felsbrocken hindurch, das Auge auf dem Pfad, aber ihre Seele glitt in die Vergangenheit, und sie sah das Gesicht ihrer Mutter…
»Frag mich nicht, meine Tochter. Ich kann dir nur sagen, daß ich glaube, er will dir helfen.« Maisfaser warf einen Blick über ihre Schulter. Er ging - fast lautlos - den Kopf leicht gesenkt, mit friedvollem Gesichtsausdruck.
Was für einen Gefallen schuldete der große Priester ihrer Mutter? Und seit wann ? Wahrscheinlich seit langer Zeit, als ihre Mutter in Krallenstadt gewohnt hatte.
Als sie am Halbrund der Mauer entlangging und sich links hielt, nach Osten zum Eingangstor, sah sie Spannerraupe, der Wache hielt, mit einem jungen Mann an seiner Seite. Vermutlich einer der Ersten Menschen; der Jüngling trug ein kostbares Purpurhemd mit Kupferglöckchen. Immer, wenn der Wind mit den Säumen spielte, klingelten die Glöckchen lieblich. Auf seiner Brust schimmerten herrlich leuchtende rote, blaue und gelbe Papageienfedern.
Spannerraupe drehte sich um und schaute nach unten. Maisfaser senkte schnell den Kopf wie eine Frau mit einem bestimmten Ziel.
Nordlicht trat neben sie und flüsterte: »Wenn du kannst, Seide, geh diesem Mann in Purpur aus dem Weg.« »Warum? Wer ist das?«
»Er ist die
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