Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
nicht die erste, die ich höre.«
Sie atmete tief ein - für den Fall, daß sie nie mehr in der Lage wäre, einatmen zu können. »Stimmt es … daß du als kleiner Junge nur auf Vögel zu zeigen brauchtest, und dann fielen sie tot vom Himmel?« Nordlicht richtete sich sofort auf. Nach einem kurzen Augenblick schüttelte ein sanftes Lachen seine Schultern. »Das ist eine, die ich noch nie gehört habe… und dabei habe ich gedacht, ich kenne sie alle.«
»Du meinst, es stimmt nicht?«
Gegen die hochragenden goldenen Klippen erschien sein windbewegtes Haar so schwarz wie Rabenflügel. »Ich fürchte, nein. Die Macht… jedenfalls meine Macht wirkt in anderer Weise. Ich könnte den Vogel in seiner eigenen Sprache bitten, zu Boden zu fallen und sich tot zu stellen. Vielleicht würde mir der Vogel die Bitte erfüllen. Aber am Ende würde er die funkelnden Augen wieder aufmachen und wegfliegen, so lebendig wie zuvor.«
Seine Unbefangenheit gab ihr Mut. Plötzlich sehr neugierig geworden, fragte sie: »Aber es gibt Hexen, die mit einem Blick oder mit einem Wort töten können - ist das nicht richtig?«
Ein gehetzter Blick erschien in seinen Augen. »Ja, das ist richtig.«
»Wie machen sie das?«
Er zog ein Knie an und umspannte es mit seinen Händen. »Um ehrlich zu sein - ich weiß es nicht. Die Macht ist wie eine fein gewebte Decke, bei der die Kette aus Strängen von Licht besteht und der Schuß aus Dunkelheit. Ich habe gehört, daß es Hexen gibt, die damit prahlen, sie könnten alle dunklen Stränge herausziehen und die finstere Macht um sich herumweben wie einen Umhang aus Schatten.« Gebannt fragte Maisfaser: »Deswegen wirken sie also in der Nacht? Weil sie in ihren Schattenumhängen dann unsichtbar sind?«
»Vielleicht. Wer weiß das? Hexen sind sehr gerissen.«
Maisfaser schöpfte eine Handvoll warmen Sandes auf, den sie durch die Finger rieseln ließ. Eine Weile schwiegen sie und lauschten dem Wind, der um die Steine säuselte und durch die Wildpflanzen raschelte. Als Vater Sonne im Westen abstieg, wuchsen die Schatten hinter den Felsen und krochen auf sie zu, kühl und dunkel.
»Hast du verstanden, was Düne dir in der Kiva versucht hat zu sagen? Über deine Seele?« Maisfaser schlug sich den Sand von den Fingern. »Ein wenig. Sängerling hat mir gleich nach der ersten Begegnung erzählt, ich hätte eine Seele wie ein blauer Himmel.« Sie zeichnete einen Kreis um ihren Rumpf. »Er meinte, er könne sie um mich herum leuchten sehen.«
Nordlicht betrachtete sie gedankenvoll. »Ja, sie ist sehr schön, aber Düne wollte noch mehr ausdrücken. Eine wilde Freiheit lebt in deiner Seele, Seide.«
»Freiheit?«
»Ja. Die meisten wissen gar nicht, was Freiheit ist. Sie tun zwar so, als wüßten sie es, weil das die Qual ihres Gefangenseins mildert. Aber du, Seide, du bist frei! Man könnte dich in einen Käfig sperren und dich fesseln, und dennoch wärst du frei. Das Herz deiner Freiheit schlägt nicht in dieser Welt. Es schlägt in den Himmelswelten. Düne hat versucht, dir zu sagen, daß der Himmel dich geboren hat - nicht die Erde. Und…«, sagte er mit einem seltsam zweifelnden Gesichtsausdruck, »das ist sehr sonderbar.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum?«
Nordlicht hob die Brauen. »Weil nur Erste Menschen Himmelsgeborene sind. Das ist auch der Grund, warum Erste Menschen nach ihrem Tod in den Himmel zurückkehren.«
»Aber was bedeutet das für mich? Wieso ist meine Seele himmelsgeboren, wie du es ausdrückst?« »Darauf weiß ich keine Antwort. Ich habe noch nie einen Gemachten Menschen mit einer Seele wie der deinen gesehen.«
Nordlicht deutete auf zwei goldene Adler, die am Canyon-Rand verharrten, die braunen Leiber schwarz gegen den staubverhangenen Himmel abgehoben. Mit scharfen Augen suchten sie die Canyon-Sohle nach Bewegungen ab. »Auf diese Antwort mußt du selbst kommen. Wenn du an hohen Orten suchst, dort, wo die Erde den Himmel trifft, werden die Thlatsinas dir helfen.« Mit zusammengekniffenen Augen sah Maisfaser nachdenklich auf die Adler. Hinter ihnen zogen anschwellende Wolkenleute über die Himmelsstraßen nach Süden, wo die Feuerhunde wohnten. Sie hatte über vieles nachgedacht, was Düne in der Kiva gesagt hatte - besonders über Sängerling, der stolz geboren worden sei, und daß es riskant sei, mit jemandem seines Alters über Liebe zu sprechen. Beides hatte sie geärgert. Sängerling hatte sich die ganze Zeit selbstlos um sie gekümmert und sie immer mit herzlicher
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