Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Schmerzen in den Gelenken. Und beschleunigt das Abstoßen der Nachgeburt. Der dritte ist der Geist des Berglorbeers. Es ist ein weiblicher Geist und zudem der mächtigste von allen. Ich kannte einen Mann, der in die Wälder gezogen war, um Blätter des Berglorbeers zu sammeln. Dabei war ihm, ohne dass er es bemerkt hatte, ein wenig von dem Nektar der Blüten auf die Finger getropft. Wahrscheinlich hat er mit den Fingern seine Lippen berührt, ehe er sich die Hände gewaschen hatte. Er schaffte es noch zurück ins Dorf, doch kurz darauf ist er eines schrecklichen Todes gestorben.«
Der ernsthafte Ausdruck auf Polterers Gesicht faszinierte Zaunkönig. Bei Gelegenheiten wie diesen rief er ein Gefühl der Ehrfurcht in ihrer Brust wach - und auch ein wenig Angst. Seine ohnehin dunklen Augen glänzten auf einmal wie schwarzer Onyx.
Instinktiv fragte sich Zaunkönig, ob Moosschnabel und Schädelkappe vielleicht mit dem Geist des Berglorbeers in Berührung gekommen waren. Sie sagte: »Warum sollte man eine so gefährliche Pflanze mit sich herumtragen, Polterer?«
»Weil der Berglorbeer sowohl Heilung als auch den Tod bringen kann. Winzige Mengen in Wasser aufgelöst helfen gegen Herzbeschwerden und Gelbsucht. Und wenn du die Blätter in sehr viel Wasser einweichst und eine Spülung zubereitest, tötet diese jede Laus und jede Zecke. Aber falls du jemals einen Berglorbeer beruhst, Zaunkönig, musst du dir anschließend sofort gründlich die Hände waschen. Gerät dir nur eine winzige Menge dieses Nektars in die Augen oder den Mund, wirst du schwer krank werden.«
Zaunkönig schöpfte eine Schale voll Fichtennadeltee aus dem Topf, der neben dem Feuer stand, und stellte sie neben sich auf den Boden. Während sie einen der mit Eiter verklebten schwarzen Stoffstreifen in der dampfenden Flüssigkeit herumschwenkte, um ihn auszuspülen, sagte sie: »Wenn man damit Läuse abtöten kann, vielleicht kann man mit so einer Spülung auch Schattengeister unschädlich machen. Ich habe nicht vor, das jetzt gleich an deinen Fingern auszuprobieren, aber irgendwann möchte ich schon wissen, ob es wirkt.« Auf Polterers ängstlichen Blick hin fügte sie rasch hinzu: »Keine Sorge, ich würde es ohnehin erst an mir selbst ausprobieren.«
Jetzt zeichnete sich die schiere Panik auf seinem Gesicht ab. »Aber… du bist doch alles, was ich habe.«
Zaunkönig lächelte traurig, als sie den Verband auswrang. »Ja, wir beide sind jetzt ganz allein. Unsere Familien …«
»Wir haben uns beide.«
Zaunkönig nickte. »Ja, das stimmt. Den Geistern sei Dank dafür.« Sie griff nach seiner Hand, um den kleinen Finger in dem Fichtennadelsud zu spülen. »Ich hatte nie einen Freund wie dich, Polterer«, sagte sie leise. »Ich meine, einen echten Freund. Gauner war mir auch ein Freund, aber er war eben nur ein Hund. Und die Kinder in meinem Dorf mochten mich nicht besonders.«
»Warum nicht?«
Zaunkönig presste ganz behutsam die geschwollene Fingerkuppe, um den Eiter herauszudrücken. Den tupfte sie mit dem Stoffstreifen ab, spülte ihn aus und wiederholte die Prozedur noch etliche Male. Polterer biss die Zähne zusammen und ertrug tapfer die Schmerzen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Dunkler Wind und Rebenstock, zwei Mädchen in meinem Alter, behaupteten stets, dass der Tod meiner Mutter meine Entwicklung gehemmt habe und ich nicht wüsste, wie man sich als Mädchen benimmt.« Merkwürdig, diese Worte taten ihr immer noch weh. Sie bohrten sich wie Pfeilspitzen in ihren Magen. »Und deshalb mag mich niemand leiden, sagten sie.« Zaunkönig spülte den Verbandstreifen noch einmal gründlich aus, ehe sie ihn auswrang, und überlegte dabei, was Dunkler Wind und Rebenstock im Augenblick wohl gerade machten. Mit ihren Familien am abendlichen Feuer sitzen und lachen und sich gegenseitig necken? Vielleicht stellten sie auch Vermutungen darüber an, was Zaunkönig und dem Falschgesicht-Kind zugestoßen sein könnte. Sie versuchte die Bilder zu verscheuchen, ehe sie sich auf ihre Seelen malten, aber sie krochen wie auf dürren Spinnenbeinen in sie hinein. Schon sah sie ihre Großmutter lächeln, hörte die alte Sumpfbohne kichern und spürte, wie sie sich mit jeder Faser ihrer Seelen danach sehnte, bei ihnen zu sein. »Ich finde schon, dass du dich wie ein Mädchen benimmst«, sagte Polterer nach einer Weile. »Abgesehen davon, dass du viel mutiger bist als andere Mädchen. Und auch mutiger als die meisten Jungen.«
Ein Lächeln huschte über ihr
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