Voyeur
Ängsten. Ich war so gut wie überzeugt
davon, einen Herzanfall zu haben, und überlegte, einen Arzt zu rufen. Eine Weile ließ ich mich von diesem Gedanken beherrschen
und |128| verlor mich in Phantasien von Krankenhäusern und Sterbebetten. Je morbider meine Hirngespinste jedoch wurden, desto mehr
entfernten sie sich von dem Thema, das sie ausgelöst hatte. Oder aber die Verdauungstabletten begannen endlich zu wirken,
denn beinahe überrascht merkte ich, dass der Schmerz plötzlich abgeklungen war.
Und als ich feststellte, dass meine weinerliche Selbstzerfleischung einen beträchtlichen Teil des Abends in Anspruch genommen
hatte, fühlte ich mich noch besser. Mit einem Mal schien der nächste Morgen nicht mehr eine Ewigkeit entfernt zu sein. Fast
fröhlich bereitete ich mir einen leichten, einfachen Imbiss zu und überlegte, wie ich den Rest der Zeit verbringen konnte.
Das Beruhigungsmittel Fernsehen hatte nie einen Reiz für mich gehabt, sodass es in meinem Haus kein Gerät gibt. Ich lese
lieber oder höre Musik. Oder ziehe mich in eine noch intimere Welt zurück. Und genau das tat ich auch jetzt.
Meine Privatgalerie befindet sich in einem fensterlosen Raum in der ersten Etage. Sie enthält meine geheime Sammlung, die
ich mit dem Kauf der ersten Schnupftabaksdose begonnen hatte. Ich ging hinein und schaltete das Licht an. Es herrschte eine
weihevolle, friedliche Atmosphäre. Die Sorgen des Tages fielen von mir ab, sobald ich die Tür geschlossen hatte. Ich hielt
einen Moment inne, um das Gefühl zu genießen.
Durch meine Beschäftigung mit Anna war ich seit Wochen nicht mehr in dem Raum gewesen. Jetzt kam es mir wie eine Heimkehr
vor. Mir war jedes Gemälde und jede Zeichnung in allen Einzelheiten vertraut, doch ihr Reiz war nie verblasst. Jedes Werk
ist auf seine Weise erotisch, manche ganz offen |129| und unverhohlen, andere auf einer subtileren Ebene. Eines zeigt ein Landschaftsbild des achtzehnten Jahrhunderts, das in
jeder Hinsicht typisch ist für seine Zeit, sieht man von den nackten Brüsten der Schäferin und der Hand des Schäfers unter
ihren Röcken ab. Daneben hängt ein Stich von Leda, die den Schwan umarmt und ihr Gesicht in seinen Federn vergräbt, während
sich sein Hals um ihren Hintern windet. Weiterhin gibt es ein Bild von zwei nackten Mädchen, die sich sinnlich und wohlig
auf einem Bett hinstrecken, nachdem sie sich einander hingegeben haben.
Ich verlor mich zwischen den Bildern, verweilte manchmal vor einem besonderen Werk, hielt manchmal nur kurz inne, bevor
ich mich dem nächsten widmete. Eines zog mich jedoch immer wieder zurück, sodass ich nach einer Weile einen Stuhl davorstellte
und mich hinsetzte, um es bequemer betrachten zu können. Es zeigt ein Paar, das sich vor einem Feuer liebt, während hinter
einer Leinwand ein Mann versteckt ist und ihnen zuschaut. Allmählich vergaß ich die anderen Bilder.
Das Gesicht des Zuschauers, der hinter der Leinwand nur wenige Zentimeter von dem liegenden Paar entfernt hockt, ist verzückt.
Die beiden scheinen ihn nicht zu bemerken. Der Kopf des Mannes ist, von Leidenschaft entfesselt, zurückgeworfen, die Frau
hat ihre Augen vor lauter Ekstase geschlossen. Einen Arm hat sie ihrem Liebhaber um den Hals geschlungen, der andere liegt
ausgestreckt da, anscheinend voller Hingabe. Oder? So wie sich ihre Hand der Leinwand zuwendet, könnte die Geste ebenso
gut als Einladung gemeint sein. Es war diese Mehrdeutigkeit, die mich faszinierte. Der ausgestreckte Arm verändert den gesamten
Bildeindruck. Er verwickelt den |130| Zuschauer in die Vereinigung der Liebenden und erhebt ihn vom bloßen Voyeur zu einem Teilnehmer ihres Aktes.
Gebannt starrte ich auf das Bild. Die Frau wurde Anna, der Mann Zeppo. Die Phantasie nahm Form an und wurde lebendig. Unbemerkt
schlich ich hinter die Leinwand. Ich rückte näher und blieb vor Annas ausgestreckter Hand hocken. Als sie den Kopf drehte,
schaute ich ihr direkt ins Gesicht. Ihre Augen öffneten sich, sie lächelte mich an.
Jäh erwachte ich. Ich saß noch immer auf dem Stuhl, dem nun leblosen, zweidimensionalen Bild gegenüber. Mein Nacken schmerzte.
Während ich ihn rieb, waren meine Gedanken noch vom Schlaf getrübt. Ich hatte den unbestimmten Eindruck, dass mich etwas
aufgeweckt hatte. Dann hörte ich das Geräusch erneut. Gedämpft und entfernt, ein leises Klingeln, gefolgt von einem dumpfen,
aber heftigen Poltern. Die letzten Spuren des Schlafes
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