Voyeur
spülte.
Anna kehrte zurück.
Ich erhielt eine weitere Postkarte, auf der sie mir schrieb, dass sie am kommenden Montag wieder zur Arbeit erscheinen wollte.
Der Text war knapp, aber der Ton wirkte wesentlich heiterer als bei der ersten Karte. Als wäre ein Schalter umgelegt worden,
wurde ich wieder lebendig.
Die nächsten Tage waren sowohl eine Freude als auch |308| eine Qual. Die Aussicht auf Annas baldige Rückkehr machte selbst die nüchternste Tätigkeit erträglich, das Warten aber war
kaum auszuhalten. Bis zum Wochenende hatte ich mich dermaßen zwischen diesen beiden Polen aufgerieben, dass ich mich krank
fühlte.
Am Montagmorgen fuhr ich früh in die Galerie. Ich kaufte einen Blumenstrauß für Anna und versuchte mich damit zu beschäftigen,
dass für ihre Ankunft alles ordentlich und sauber war. Als ich fertig war, hatte ich immer noch eine halbe Stunde totzuschlagen.
Ich setzte mich hin und beobachtete die Uhr. Jetzt, wo sich das zweimonatige Warten seinem Ende näherte, verstrich die Zeit
mit jeder Minute langsamer.
Um kurz vor neun Uhr hörte ich dann das Schellen der Türglocke, und plötzlich stand Anna da.
«Ich bin zurück!», rief sie grinsend.
«Anna!» Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. «Sie sehen großartig aus!»
In der Tat. Keine Spur mehr von der blassen, leblosen jungen Frau, von der ich mich verabschiedet hatte. Ihre Haut hatte
eine warme, goldene Bräune, und ihr Haar, das lose zurückgebunden war, schimmerte bronzefarben von der Sonne. Sie sah
gesund und munter aus und schöner denn je.
«Danke. Ein Monat in der Sonne wirkt Wunder.» Sie küsste mich auf die Wangen. Meine Haut schien in Flammen aufzugehen. Ich
atmete ihren vertrauten Duft ein, unter dem ich ihre sonnengebräunte Haut riechen konnte. «Und, sind Sie ohne mich klargekommen?»
«Ich habe mich mit einer leicht zurückgebliebenen Aushilfe durchgeschlagen. Wie war es in Tunesien?»
|309| «Heiß. Und nach den ersten zwei Wochen ziemlich langweilig.»
«Es hat Ihnen jedenfalls nicht geschadet.» Ich konnte nicht aufhören zu lächeln. «Schön, Sie zu sehen. Ach ja, die habe
ich für Sie gekauft.» Etwas gehemmt gab ich ihr die Blumen.
«Donald, sind die schön! Vielen Dank!» Sie lachte. «Ich bin doch diejenige gewesen, die weg war. Eigentlich sollte ich Ihnen
ein Geschenk mitbringen. Wo wir schon einmal dabei sind …» Sie wühlte in ihrer Tasche umher und holte einen in Papier gewickelten Gegenstand hervor. «Ich habe Ihnen eine Flasche
des Fusels mitgebracht, den man dort trinkt. Er ist schrecklich, aber man bringt ja Souvenirs mit, oder? Und das ist auch
für Sie.»
Sie reichte mir ein kleines Päckchen. «Ich habe sie zufällig gefunden», sagte sie, als ich es auspackte. «Einmal haben wir
uns verfahren und sind in so einem kleinen Kaff mitten im Nirgendwo gelandet. Ein alter Mann hat sie hergestellt.»
Ich hatte das Päckchen aufgekriegt. Es enthielt eine handgeschnitzte Holzstatue einer Frau. Sie war einfach, aber kunstvoll
gemacht, und obwohl sie nicht gerade meinem Geschmack entsprach, musste ich zugeben, dass es ein recht hübsches kleines
Ding war.
«Sie sind alle unterschiedlich, aber diese gefiel mir am besten», sagte Anna. «Ich hoffe, Sie mögen sie. Es wäre nämlich
schwierig, sie umzutauschen.»
«Sie ist schön. Vielen Dank.» Selbst wenn es der geschmackloseste Plunder gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich genauso
gefreut. Es war ein Geschenk von Anna und deshalb einzigartig.
|310| «Es ist dafür, dass Sie so rücksichtsvoll waren.» Sie wirkte verlegen. Ich war es auch. Aber gerührt.
«Sie hätten mir nichts mitbringen müssen. Aber trotzdem danke. Sie wird einen Ehrenplatz kriegen. Und vielen Dank auch für
den Fusel. Ich hätte ja vorgeschlagen, ihn heute Nachmittag aufzumachen, aber wenn er so schlecht ist, wie Sie sagen,
ist das vielleicht keine so gute Idee.»
«Jedenfalls nicht, wenn Ihnen Ihre Magenwände lieb sind.»
«Dann hebe ich ihn lieber für jemanden auf, den ich nicht mag.» Zeppo vielleicht. Ich schaute sie unsicher an. «Wie geht
es Ihnen jetzt?», fühlte ich mich zu fragen bemüßigt.
Sie nickte beruhigend. «Mir geht’s gut. Meine Eltern hatten recht. Ein Ortswechsel war genau das, was ich brauchte. Jetzt
ist alles in Ordnung.» Wie zur Bestätigung lächelte sie mich an, und plötzlich bekam sie feuchte Augen. Sie lachte unsicher
und wischte sich die Tränen weg. «Na ja, fast. Entschuldigen
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