VT03 - Tod in den Wolken
der Schädel eines Wakudastiers. Im Laufe der Jahre machten ihn sein Mut und seine Kraft zu einem geachteten Krieger.
Nachfolger des Stammesführers wurde er trotzdem nicht, denn er war ein Krüppel. Wabo seufzte. Er öffnete die Augen und starrte auf sein rechtes Bein. Vor mehr als drei Jahrzehnten hatte ein Nilross ihm sein Bein oberhalb des Knies abgerissen. Eine Prothese ersetzte die einst starken Muskeln und Sehnen. Die Verkrüppelung galt bei den Masaaii als Makel und schlechtes Ohmen. Die Nachfolge seines Vaters übernahm Wabos zweitgeborener Bruder.
An jenem Tag war Wabo Ngaaba mit einem gesunden und einem Holzbein in den Dschungel gehumpelt. Er setzte sich unter eine Hyphaenepalme und wartete auf die Nacht, die ihre wilden Tiere schicken würde, um ihn zu töten. Aber Ngaai, der große Schöpfer, hatte andere Pläne: Statt der Tiere sandte er ihm Pilatre de Rozier! Den Mann, der aus dem Himmel fiel!
Wie aus dem Nichts stand der Fremde damals vor ihm: Merkwürdige Kleidung verhüllte die große Gestalt des Mannes, der kaum älter war als Wabo selbst. Auf seinem Kopf trug er eine weiße Haube mit Schwanz. Die Worte, die aus seinem Mund kamen, klangen wie der Gesang eines verschnupften Medizinmannes. Um seinen Hals hing an einem Lederband ein kleines Gerät aus glänzenden Rohren. In der einen Hand hielt er einen schwarzen Stab, auf dessen Spitze eine schillernde Kugel saß, in der anderen ein langes Holz mit Eisenbeschlägen. Erst viel später, als Pilatre die Sprache der Masaaii erlernt hatte, erfuhr Wabo, dass der Stab ein Steuerungsteil aus einem Luftschiff, das lange Holz eine Flinte und das Gerät um Pilatres Hals ein Fernglas waren.
Überzeugt davon, dass Ngaai ihm einen Boten geschickt hatte, gab Wabo damals seine Todesabsichten auf und nahm Pilatre mit in sein Dorf. Und war er nicht tatsächlich Ngaais Günstling? Wie sonst war es zu erklären, dass seitdem viele Jahre vergangen, doch Pilatre um keinen einzigen Tag gealtert war? Inzwischen war er zum Kaiser aufgestiegen und Wabo zu dessen Vertrautem und Kriegsminister, der Mann mit dem Zauberbein.
Wabo zupfte an seinen langen Hosen aus Wakudaleder. Sie waren weit geschnitten und verdeckten die Prothese, die inzwischen nicht mehr aus Holz, sondern aus Leichtmetall war. Der Kaiser selbst hatte sie entworfen und für seinen Kriegsminister bauen lassen. Sie war leicht wie eine Feder und gab bei jedem Schritt ein wenig nach. Mit ihrer Hilfe und Dank seines durchtrainierten Körpers konnte er es selbst mit den jüngeren Kriegern unter den Masaaii aufnehmen.
Wabo klopfte sich stolz auf den sehnigen Bauch: Kein Gramm Fett am Leib! Und das mit zweiundsechzig! Er strich sich lächelnd durch den braunen Vollbart, den feine weiße Haare durchzogen. Er dachte an die anerkennenden Blicke der jungen Frauen, die er bei Hofe erntete. Ja, er war einer der begehrtesten Junggesellen in Wimereux-à-l’Hauteur.
Was aber niemand sah, waren die Schmerzen, die bei jedem Wetterumschwung an dem fehlenden Bein nagten. Phantomschmerzen nannten die Ärzte dieses Phänomen. Und auch heute plagten sie Wabo Ngaaba. Darum hatte er seinen Kaiser und die Jäger nicht begleitet. Sie waren der Bestie nach Süden gefolgt. Pilatre hatte am Morgen sofort bemerkt, dass Wabo unter viehischen Schmerzen litt, und ihn gebeten, im Lager zu bleiben und die Frauen zu bewachen. Wabo war ihm dankbar dafür.
Die Frauen! Normalerweise nahm der Kaiser keine Frau mit zur Jagd. Aber seit einigen Monaten ging Pilatre ohne seine Lieblingsfrau Naakiti nirgendwo hin. Die schöne Äthiopierin hatte das Herz des Kaisers im Sturm erobert. Wabo hatte seinen Freund schon Ewigkeiten nicht mehr so ausgeglichen und zufrieden erlebt. Seit dem Tod von Lazefa nicht mehr. Fünfundzwanzig Jahre war das nun her. Lazefa, die bei der Geburt von Victorius gestorben war! Die Seele des Kaisers schien damals gebrochen über den Tod seiner Liebsten. Aber die Zeit heilte, was sich heilen ließ.
Allerdings litt das Verhältnis des Kaisers zum gemeinsamen Sohn: Dessen für einen Mischling äußerst dunkle Hautfarbe, seine leuchtenden Augen, sein ebenmäßiges Gesicht und seine Art, sich zu bewegen, erinnerten Pilatre tagtäglich an seine verstorbene Frau. Er schenkte dem Kind nur reduziert Aufmerksamkeit, war mit der Erziehung des Jungen strenger als bei seinen anderen Kindern und verhielt sich ihm gegenüber betont distanziert.
Auch als Victorius zum Mann wurde, änderte sich das Verhältnis der beiden nicht. Im Gegenteil:
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