VT03 - Tod in den Wolken
reckten sich ihm die Riesenschädel des Lioon und eines Weibchens entgegen. Die Mähne des männlichen Tieres glänzte golden, und eine schwarze Schwanzquaste peitschte durch die Luft. Die Nackenhaare der Löwin standen gesträubt nach oben. Ihre Ohren waren angelegt und sie fletschte die Zähne. Acht Reißzähne schimmerten elfenbeinfarben zwischen ihren blutverschmierten Lefzen hervor, jeder so lang wie der Dolch in Wabos Gürtel. Das Maul des Lioon war geschlossen, die Ohren gespitzt. Beide starrten ihn an.
Jetzt erst fiel Wabo auf, dass die Tierköpfe bislang keinen Laut von sich gegeben hatten. Er lauschte: kein Knurren, kein Fauchen, kein Grollen! Nur das Rascheln der Blätter war zu hören. Und ein leises Surren, das sich vom Wald her näherte. Bei Ngaai! Die Wächter eröffneten das Feuer!
Die Bestie verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf den Wald. Ihr mächtiger Leib schnellte herum und machte sich zum Angriff bereit.
Wabo riss seine Armbrust hoch. Das Biest präsentierte ihm die Längsseite seines Körpers. Er zielte auf die Brust und drückte ab. Während sich die Pfeile aus seiner Waffe lösten, warf die Löwin den Kopf herum. Ihre Augen streiften den Kriegsminister, und im nächsten Moment drückte die Bestie ihren Leib flach auf den Boden.
Dennoch bohrte sich einer der Pfeile in den Kamm ihres Rückens. Gleichzeitig zischten die Speere der Wächter heran. Sie sausten über die Köpfe der Bestie hinweg. Einer wurde von dem Lioon mit einem Prankenhieb zerschmettert.
»Lauft!«, schrie Wabo. »Lauft zum See!« Und endlich rannten die Frauen und Wächter davon. Die Bestie machte Anstalten, ihnen zu folgen. Aber Wabos Pfeil hielt sie auf: Der Löwinnenkopf versuchte ihn mit dem Rachen zu erreichen, doch es gelang ihr nicht. Schließlich gab die Kreatur ihre Bemühungen auf. Sie schlug ihre mächtige Vorderpranke in das Erdreich. Staub spritzte auf. Der weiße Körper setzte sich in Bewegung.
Sie wollte zum See! Wabo musste das verhindern. Aber wie? Sein Waffengurt lag bei den Zelten. Er hatte keine Pfeile dabei, um seine Waffe nachzuladen, nur einen Dolch. Ohne zu überlegen, brüllte er los: »Komm her, du verfluchter Dämon! Ngaai ist mein Zeuge, ich habe keine Angst vor dem Tod!«
Und die Bestie kam. Wabo warf seine Armbrust nach ihr und zückte seinen Dolch. Die Bestie zögerte nur kurz. Mit geschmeidigen Schritten setzte sie ihren Weg fort. Aufreizend langsam, wie Wabo fand. Er musste das Küchenzelt erreichen, bevor die Bestie ihn erreichte!
Langsam lief er rückwärts. Nur keine hektischen Bewegungen. Es schien ihm eine Ewigkeit zu vergehen, bevor er endlich die Zeltwand erreichte. Er kauerte sich auf den Boden und löste hinter seinem Rücken die Verankerung des Segeltuchs.
Lauernd näherte sich ihm die Bestie. Ihre Augen beobachteten jede seiner Bewegungen. Als Wabos Oberkörper im Zelt verschwunden war, machte sie einen Satz nach vorne.
Der Kriegsminister war fast in Sicherheit. Aber er schaffte es nicht mehr, seine Prothese durch die Stofföffnung zu ziehen. Eine mächtige Pranke zerrte an ihr. Wabo reagierte blitzschnell. Er schnitt den Stoff seiner Hose auf und löste den Gurt, mit dem das künstliche Bein am Stumpf befestigt war. Mit einem scharrenden Geräusch sauste die Prothese durch die Öffnung auf die andere Seite.
Schnell befestigte Wabo die Verankerung der Plane und kroch zur Vorderseite des Zeltes. Er zog sich an einer Anrichte hoch, löste die Stoffbahnen am Eingang des Küchenzeltes und verschloss sie mit kleinen silbernen Haken.
Schließlich sackte er zu Boden. Er lauschte und starrte auf die weißen Zeltwände, die ihn von der Bestie trennten. Der Stoff war doppellagig vernäht. Würde er den Krallen der Lioon standhalten? Wabos Herzschlag raste.
Draußen herrschte Totenstille. Ein mächtiger Schatten schob sich über das Segeltuch. Die Bestie umkreiste das Zelt. Jetzt war sie wieder an der Rückseite. Blätter raschelten. Äste knackten. Wabo glaubte Sand rieseln zu hören. Was hatte dieses Untier vor? Seine Augen wanderten über die Zeltplane. Dort wo sie im Boden verankert war, bewegten sich Erde und Stoff. Bei Ngaai! Das Biest wollte sich zu ihm durchgraben!
***
Pilatre de Rozier umklammerte den Haltebügel an seinem Sattel. Sein Reitvogel näherte sich mit großer Geschwindigkeit der Baumgruppe, hinter der sich das Basislager befand. Die muskulösen Beine des Vogels schienen kaum den Boden zu berühren: Sie flogen über die Savanne. Seit Stunden begleitete das
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