VT08 - Anti-Serum
vor: Der Kratzer musste von dem Kampf mit dem mutierten Gruh herrühren, und es würde einem Wunder gleichkommen, wenn ihr Leben in der bisherigen Form nicht innerhalb der nächsten Stunden endete. Ihre Schwester Antoinette hatte von den Menschen berichtet, die von Gruh verletzt worden waren und kurz danach eine unheimliche Verwandlung durchmachten. Sie hatte nichts erzählt von Verletzten, die trotzdem Menschen geblieben waren.
Marie war klar, was das bedeutete. Es wäre ihre Pflicht gewesen, das Dorf und Nooga zu verlassen, um ihrem Leben irgendwo in der Einsamkeit ein Ende zu setzen, bevor die Seuche dies für sie übernahm.
Aber das brachte sie nicht über sich. Nicht, solange noch ein Funken Verstand in ihrem Schädel glomm. Sie hatte eine Verantwortung, und zwar nicht in erster Linie Nooga und seinen Verwandten gegenüber, sondern gegenüber allen ihren Untertanen. Sie musste sicherstellen, dass Orleans-à-l’Hauteur an der Station andocken konnte und dass Schutzmaßnahmen für die Dörfer getroffen wurden.
Sie zog die Beine an und schwang sich auf. Von den Schmerzen, die ihren Körper geschüttelt hatten, von dem Schwindel, der ihr Gehirn beinahe zum Schmelzen gebracht hatte, war nichts mehr zu spüren. Das konnte nur eines bedeuten – sie war nicht infiziert. Sie war gesund!
Doch ein letzter Zweifel blieb. Sie horchte in sich hinein, lauschte auf irgendetwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es sein konnte. Irgendetwas Fremdes, Bösartiges, das in ihren Adern kreiste.
Aber alles, was sie spürte, war ein unbändiger Drang, die Dinge in die Hand zu nehmen und die Initiative nicht länger der Seuche zu überlassen.
Sie schwang die Beine von der Strohmatte und sprang auf.
Im selben Augenblick öffnete sich die Tür. Nooga stand im Rahmen, und sein Blick war finster. Sein blankes Schwert war auf Marie gerichtet.
»Zurück!«, rief er.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Zurück, habe ich gesagt!«
»Ich bin nicht krank!«
Er trat auf sie zu, bis die Spitze der Klinge fast ihre Brust berührte. »Fast hättest du uns getäuscht. Das wird mir eine Lehre sein, in Zukunft noch genauer hinzuschauen.«
»Ich verstehe noch immer nicht, wovon du redest!«
»Ne’ne«, sagte er, und seine feste Stimme bekam unvermittelt einen Bruch.
Marie schluckte. Ein eisiger Schauer rieselte durch ihren Körper. Um Himmels willen, wenn dem Mädchen etwas zugestoßen war…?
»Was ist mit Ne’ne?«, hauchte sie voller Angst.
»Wir mussten sie töten«, sagte Nooga hart. »Sie hatte sich in einen Gruh verwandelt.«
***
Die Strahlen der Vormittagssonne täuschten einen prachtvollen, warmen Januartag des Jahres 2524 vor, als Kanzler Goodefroot den Palast verließ und auf das Flugfeld hinaustrat. In Wirklichkeit aber war es ein Tag, wie er finsterer nicht hätte sein können.
Vor einer Stunde war Orleans-à-l’Hauteur über der Andockstation eingetroffen. Sofort hatte Pierre de Fouché einige Gardisten in einer Roziere losgeschickt, um die Station in Augenschein zu nehmen. Er wollte sichergehen, dass die Gegend frei von Gruh war, bevor das Andockmanöver begann.
Die Gardisten kehrten mit schlechter Nachricht zurück. Sie hatten den Bericht des Witveerlenkers Adrien bestätigt. Die Andockstation war übersät von Gruhleichen. Dazwischen lagen drei tote Gardisten. Einer davon hatte Orleans erst in der vergangenen Nacht in Begleitung Maries verlassen…
Auch in einem weiteren Punkt hatte Adrien Recht gehabt: Die Prinzessin war unauffindbar.
Sofort nach der Rückkehr der Roziere hatte de Fouché den Entschluss gefasst, das Andockmanöver um eine Stunde zu verschieben. Er wollte sich erst persönlich davon überzeugen, dass auch die Ankerstationen frei von Gruh waren.
Es war das erste Mal seit Stunden, dass Goodefroot seine Ansicht teilte.
Goodefroot und drei Begleiter würden auf einem Witveer die Gegend erkunden und nach Marie suchen. Zu gern hätte er die umsichtige Doktor Aksela dabeigehabt, aber Aksela war eine Medizinerin. Ihre Aufgabe war es, im Haus der Heiler das Anti-Serum zu vervielfältigen, dessen Formel sie aus Wimereux mitgebracht hatte.
Ein schlanker Gardist salutierte vor Goodefroot. »Der Witveer ist bereit, Herr Kanzler.«
Auf dem hageren Gesicht des Mannes zeichnete sich die Anspannung ab, unter der auch der Rest der Hofgarde stand, seit Marie verschwunden war. Die Prinzessin war beliebt bei ihren Untergebenen. Sie war bescheiden, manchmal sogar eine Spur zu bescheiden, wie Goodefroot fand, aber
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