Vyleta, Dan
Magen schlugen.
Ich servierte dem Colonel ein
spätes Mittagessen, oben in seinem Arbeitszimmer, band ihm eine gestärkte
Serviette um den dicken Hals und schenkte ihm ein Glas Mineralwasser ein. Er
pellte das gekochte Ei äußerst pingelig, warf die Schalen in den Aschenbecher
und streute Salz auf das weiße Rund. Butterte drei Scheiben Toast und belegte
sie mit Corned Beef, auf das er Senf strich. Zu jeder anderen Gelegenheit hätte
es ein Vergnügen sein können, ihm beim Essen zuzusehen, an diesem Nachmittag
jedoch konnte ich die tausend Details seines Rituals kaum ertragen und zuckte
jedes Mal innerlich zusammen, wenn er sich wegen irgendeines Häppchens die
Lippen leckte. Ich blieb lange genug bei ihm, um sicherzugehen, dass ihm nicht
noch eine Zutat fehlte, entschuldigte mich dann schnell und kehrte in den Keller
zurück.
Als ich
auf dem Weg die Treppe hinunter aus meinem Mantel schlüpfte, konnte ich meine
Erschütterung offenbar nur schlecht verbergen. Ich trat an meinen Tisch gleich
vor dem Gitter und baute das Schachbrett auf, aber statt sich wie gewohnt mir gegenüber
auf die Ecke seiner Matratze zu setzen, blieb Pavel stehen und sah mir offen
ins Gesicht.
»Er ist
zurück, stimmt's?«
»Wer?«
»Fosko. Er
war weg, und jetzt ist er zurück. Tun Sie nicht so überrascht. Ich sehe doch,
dass er zurück ist. Es steht Ihnen mit Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben.«
»Pavel«,
sagte ich und trat noch ein Stück näher an seinen Käfig heran. »Sie müssen mir
jetzt sagen, was Sie über den Mikrofilm wissen. Wenn nicht ...«
»Verstehe.«
Wir
standen keinen halben Meter voneinander entfernt und sahen uns in die Augen.
Wieder fiel mir auf, wie zart seine Züge waren.
»Wo ist Sonja?«
»Sie
versteckt sich. Seit wir Sie abgeholt haben. Ich glaube, sie hat den Film.«
»Weiß Fosko, wo sie ist?«
»Nein.«
»Schwören Sie das?«
»Ich schwöre.«
»Wenn er
sie findet, werden Sie es mir doch sagen, Peterson.«
Ich schwieg.
»Versprechen
Sie es mir, Peterson. Versprechen Sie, dass Sie es mir sagen werden.«
»In
Ordnung«, sagte ich. »Nun, warum spielen Sie zur Abwechslung nicht mal mit den
weißen Figuren? Spielen wir um Pennys? Sie können zahlen, wenn Sie wieder frei
und bei Kasse sind.«
Wir
spielten ohne Leidenschaft. Ich versprach ihm heiße, gebutterte Schrippen zum
Abendessen.
Es kann nicht einfach für ihn gewesen
sein. Neun Tage waren vergangen, und er hatte nichts von Sonja und dem Jungen
gehört. Nur wir zwei hatten geredet, das Schachbrett voller gefallener Bauern
zwischen uns. Er muss sich wie aus der Zeit gefallen gefühlt haben. Zwar konnte
er die Tage zählen und ihr Vergehen auch an der Länge seiner Bartstoppeln
ablesen, aber das alles verschaffte ihm keinerlei Bezug zur Wirklichkeit
hinter den Mauern seines Gefängnisses. Die Zeit war dort unten nichts weiter
als etwas, das es sich zu vertreiben galt. Dabei half uns das Reden, die
Freude an der eigenen Stimme. Aber selbst die wurde ihm durch die ständige
Angst verdorben, zu viel von sich zu verraten. So gut wie alles mochte
irgendwann aus ihm herausrutschen, nicht weil es musste, einem
ununterdrückbaren Aufschrei des Herzens gleich, sondern einfach, weil es da war. Wie Aasgeier fraßen die Worte an seinen Erinnerungen,
nagten sie ab bis auf die Knochen und hinterließen ihm nichts als die
skelettierten Umrisse einer Vergangenheit, die er nicht länger als seine eigene
erkannte. All das tauschte er ein für eine Handvoll Wahrheiten, über Sonja und
Boyd und den kriminellen Herrn Söldmann, die zwar seine Neugier befriedigten,
aber die Tatsache seines Eingesperrtseins nicht zu ändern vermochten.
All das
änderte sich an jenem Tag. Fosko kehrte zurück, und mit ihm die Zeit. Es
verlieh ihm neue Energie, gleichzeitig durchfuhr ihn aber auch Angst, und er
sah mich Hilfe suchend an. Es war ein wilder Blick, halb Bitte, halb Drohung,
wenn seine Stimme auch ausgeglichen blieb.
Vorläufig
beschloss ich, seine Tür fest verschlossen zu halten.
Anders ging nicht zu Paulchen. Er
sprang. Mied Bus und Straßenbahn und trotzte der Winterkälte. Wischte sich an
jeder zweiten Kreuzung den Rotz in den Mantelpelz und spürte sein Herz
schlagen, jetzt, da er endlich wieder draußen war. Der Nachmittagsmond hing
tief am Himmel. Anders war sicher, dass Sonja Pavel freibekommen würde,
vielleicht noch an diesem Abend, und dass er mit seinem Bücher liebenden Freund
wieder vereint sein würde. Er stellte sich vor, wie sie sich
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