Vyleta, Dan
Ich
versuchte, die Bedenken abzuschütteln, während ich hinter Pavel herlief. Ich
hatte im Moment nicht genug Platz für das alles in meinem Kopf. Für mich war
allein wichtig, dass ich meine sorglose Beute nicht aus den Augen verlor.
Wir kamen
an einem öffentlichen Fernsprecher vorbei, Pavel war etwa dreißig Schritt vor
mir, ging schleppend und schief, seine Mantelschöße flatterten im Wind. Etwas
vor ihm standen ein junger Mann und ein Mädchen, gerade mal zwanzig, und
umarmten sich leidenschaftlich. Ich erinnere mich, wie sie eine Dose
amerikanischen Orangensaft in einem ihrer viel zu großen Fäustlinge hielt,
zweifellos ein Geschenk von ihrem Liebsten. Seine Hände steckten in ihrem
Mantel und rubbelten sie warm. Als Pavel an ihnen vorbeikam, hielten sie inne
und drehten sich nach ihm um. Der Junge flüsterte seinem Mädchen etwas ins Ohr,
das sie kurz auflachen ließ, entzückt von der Erbärmlichkeit eines anderen
Menschen, und schon wandte sie sich wieder seiner Umarmung zu.
Als ich
auf ihre Höhe kam, wünschte ich ihnen ein frohes Weihnachtsfest. »Fro-licke
Wei-nackten«, sagte ich in meinem englischen Deutsch.
»Dir auch,
Tommy«, antwortete der Junge streitlustig. Himmel, man hätte doch denken
sollen, dass sie an einem Abend wie diesem die Besatzung einmal vergessen
konnten. Pavel und ich, wir liefen weiter durch die Dunkelheit. Um uns herum
überließ sich die Stadt dem Wunder des Weihnachtsabends.
Ich habe
oft überlegt, wie sehr in diesem Winter wohl Weihnachten gefeiert wurde, dem
Winter '46. Alles in allem neige ich da zu Optimismus. Wären die Fenster nicht
alle zugefroren gewesen, hätte ich sicher in so gut wie jedem Wohnzimmer ein
Bäumchen zu sehen bekommen, ein wenig schäbig vielleicht und mit großer
Wahrscheinlichkeit den Besatzern unter der Nase weggeklaut. Auf den Zweigen:
Talgkerzen, hölzerne Figuren und bei den Wohlhabenden auch Glaskugeln,
handbemalt, und ein silberner Stern oben auf dem schiefen Ding. Geschenke wird
es nicht viele gegeben haben, aber vielleicht hatten sich die Leute etwas
Besonderes zum Essen organisieren können: einen Gänsebraten vielleicht oder
einen Karpfen mit Mandeln, einen kleinen Kuchen zum Nachtisch und ein halbes
Gläschen Hochprozentiges, um auf die Geburt des Christkinds anzustoßen. Es mag
sentimental klingen, aber ich stelle mir gerne vor, dass sie den Kopf nicht
hängen ließen, die Krauts, und wenigstens einen Abend lang ihre bittere Niederlage
vergessen konnten. Pavel schien an ihrer Fröhlichkeit allerdings nicht
interessiert. Er hielt die Augen auf den Boden gerichtet. Gott weiß, der war
tückisch genug.
Am Ende
wurde es kein langer Spaziergang, obwohl die Zeit mehr als ausreichte, die
Kälte bis tief in meine Knochen kriechen zu lassen. Kaum war Pavel um die
letzte Ecke gebogen, lösten sich ein paar Halbwüchsige vor ihm aus den Schatten
und drängten ihn gegen die Hauswand. Sie durchsuchten ihn nach Waffen.
Ich hielt Abstand und beobachtete,
wie sie ihn über eine Hofmauer schoben und zu einem Eingang führten. Es gab
Strom, und ich konnte verfolgen, wie sie Stockwerk um Stockwerk das Licht
einschalteten. Sie brachten ihn bis irgendwo oben unter das Dach. Es war nicht
mein Job, ihm bis dahin zu folgen.
Ich
wusste, es würde eine lange, kalte Warterei werden. Ein wenig verstimmt
darüber, so schnell schon allein gelassen worden zu sein, lief ich zurück zu
dem öffentlichen Fernsprecher, an dem wir vorbeigekommen waren. Er war übel
mitgenommen, dennoch kam ich erstaunlicherweise gleich durch.
»Hier ist
Peterson«, sagte ich. »Richter ist von einer Bande junger Strolche in Empfang
genommen worden. Schillerstraße 48, gleich in der Nähe.«
»Nein,
nein, ganz normale Jungs, soweit ich sehen kann. In dem Haus ist auch der
Winzling verschwunden, Richters kleiner Freund.«
»Nun, in
dem Fall sagen Sie dem Colonel Bescheid. Schicken Sie mir aber vorher noch ein
paar Männer mit einem Auto und eine große Kanne Kaffee.«
»Wunderbar,
ich wusste doch, dass ich auf Sie zählen kann.«
»Auch
Ihnen schöne Weihnachten, Jones.«
Sehen Sie,
wir alle, die wir für den Colonel arbeiteten, waren Teil einer einzigen großen
Familie.
Sie gingen nicht zimperlich mit ihm um. Pavel hätte das
nichts ausgemacht, aber einer der Jungen stieß ihm in die Nieren, als er ihm
über die niedrige Gartenmauer helfen wollte, und der Schmerz durchfuhr ihn von
der Kehle bis zum Steiß. »Sei vorsichtig«, murmelte er.
»Was sind
Sie, ein
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