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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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Schlappschwanz?«, fragte der Junge. Er war, wie Pavel sah, mit einem
Schreinerhammer bewaffnet. Pavel fragte sich, ob der Junge eine Ahnung hatte,
was ein solches Ding dem Gesicht eines Menschen antun konnte.
    Sie zogen
ihn durch die Hintertür eines schmutzigen, alten Gebäudes und dann etliche
Etagen hoch. »Früher gab's hier mal einen Aufzug«, erklärte ihm einer seiner
Entführer stolz. Der Junge hatte einen selbst gemachten Totschläger und etwas,
das wie der gusseiserne Deckel eines Topfes aussah. »Ich hoffe, Sie haben was
anzubieten«, fügte er noch hinzu. »Paulchen ist so was von sauer.«
    »Ja«,
sagte Pavel, »ich gebe ihm, was immer er will.«
    Sie
brachten ihn zu einer Wohnung im obersten Stock. An der Tür stand kein Name, es
gab nur einen rostigen Messingklopfer. Einer der Jungen betätigte ihn, man
hörte Schritte näher kommen, und eine schrille Stimme fragte: »Passwort?«
    »Mach
schon auf, Hendrik, oder ich steck dir meinen Fuß so tief in den Arsch, dass
ich dich als Stiefel benutzen kann.«
    »Jau«,
sagte die Stimme. »Das ist das Passwort.«
    Pavel
fragte sich, woher sie diese Art Humor hatten. Vielleicht aus dem Kino. Das
Ganze hörte sich irgendwie amerikanisch an.
    Es war
eine vollgepackte Zweizimmermansardenwohnung, die Wände bis in Brusthöhe mit
dunklem, altem Holz vertäfelt. Die Decke des Hauptraums fiel schräg zu einer
Seite ab und schien durchzuhängen, war vergilbt und voller Wasserflecken. Sie
sah aus wie die Unterseite eines großen Fischs, der aufs Trockene geschwemmt
worden war und im Sterben lag. Es roch nach Zigarettenrauch und ungewaschenen
Kindern.
    Letzteres
war kein Wunder. Die Wohnung war voll von ihnen. Sie füllten jeden freien
Platz, saßen dicht an dicht auf einem uralten, verrotteten Sofa, drängten sich
um den großen Ofen und lehnten in der Tür zur Küche, Zigaretten hinter den
Ohren. Pavel zählte siebzehn von ihnen, etwa acht Jahre und älter. Sie mussten
von weit und fern gekommen sein, um seiner Erniedrigung vor ihrem Kriegsherren
beizuwohnen.
    Paulchen
saß unter ihnen wie ein wilder Stammeshäuptling, in einem Sessel genau in der
Mitte des Raums. Grüner Kord, der auf den Armlehnen und hinten braun angelaufen
und fettig war. Eine graue Militärdecke lag auf seinen Beinen, obwohl der Raum
wärmer war als alle anderen, in denen Pavel seit Wochen gewesen war,
aufgeheizt durch die zusammengedrängten schmutzigen Kinderkörper. Wie ein Egel
klebte die Beule auf Paulchens Schläfe, schwarz glänzend und prall, voll mit
seinem Blut. Bei jedem anderen Wetter hätte er einen Eisbeutel daraufgelegt.
Das Auge daneben war völlig zugeschwollen, und das Dunkle der Verletzung ließ
das übrige Gesicht umso blasser erscheinen. Der Mund wurde von länglichen
Haarbüscheln eingerahmt, weich wie Flaum. Ein Junge, der noch nicht alt genug
war, um zu wissen, wann er sich rasieren sollte. Er starrte Pavel düster an,
die Hände wie zum Gebet gefaltet. Er musste sich diese Pose irgendwo abgeguckt
haben. Sie ließ den Burschen um Jahre älter erscheinen.
    Paulchen
gab Pavel die Zeit, sich umzusehen. Seine Augen wanderten von der deutschen
Flagge, die eine Wand zierte, zu einer Europakarte mit den Grenzen von 1941 und
einer farbigen Nadel in jeder gefallenen Hauptstadt. Auf einem Kaffeetisch
stand ein Schuhkarton voller militärischer Insignien und Orden. Pavel erkannte
ein Eisernes Kreuz und stellte sich dessen Reise vor, von der Brust eines arischen
Helden in die Tasche eines russischen Plünderers und immer weiter, bis es hier
gelandet war, als in Ehren gehaltene Beute eines Jungen, der selbst noch für
den Volkssturm zu jung gewesen war, diese Armee von Kindern und
Altersschwachen, die Berlin während der letzten verzweifelten Wochen und Tage
gehalten hatte. Aber vielleicht war er auch dabei gewesen und hatte sich das
Kreuz mit einer waghalsigen Attacke gegen einen russischen Panzer verdient.
Nur, was hatte es ihm genützt, als die Stadt um ihn herum brannte und an jeder
zweiten Laterne ein Deserteur hing?
    Neben der
Schachtel mit dem wertlosen Zeug stand ein kleiner Baum in einem Ständer,
geschmückt mit roten Schleifen. Die Zweige hingen halb verdorrt herunter, die
Nadeln waren eher braun als grün, und plötzlich erinnerte sich Pavel daran,
dass Weihnachten war und dieses Fest genau jetzt, in den frühen Abendstunden,
überall in Deutschland gefeiert wurde, so wie Charlotte es daheim in Ohio
feiern würde, die Frau, die er geheiratet und der er Worte über die

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