Wach auf, wenn du dich traust
nicht mehr so schnell zurück.
Sie hing eine Weile ihren düsteren Gedanken nach und merkte erst, als ihre Beine anfingen zu schmerzen, dass Markus das Tempo mittlerweile stark angezogen hatte. Jenny war außer Atem und auch die anderen keuchten und schwitzten, obwohl es in der Schlucht durch das Wasser, das die Felswände hinunterlief, und den Schatten der Bäume kühler geworden war.
Markus drehte sich um. »Wechseln!«, befahl er und ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen. »Auch ihr.« Er deutete auf Finn und Sebastian. Abgekämpft ließen die beiden die Rucksäcke sinken. »Frederik, Tino, Max und Miro, ihr übernehmt die nächste Schicht! Wir sind übrigens noch lange nicht da. Und auf den nächsten Kilometern überlegt sich jeder von euch – und jede! –«, Markus funkelte in Jennys Richtung, »was Verantwortung bedeutet. Und was nicht.«
Jenny durchfuhr eine eiskalte Erkenntnis: Es war nicht vorbei. Es fing gerade erst an.
Markus öffnete den Rucksack und nahm zwei Wasserflaschen heraus. »Und trinkt etwas. Ihr werdet es brauchen.«
Die Flaschen kreisten. Niemand störte sich daran, dass eigentlich Namen auf den Flaschen standen. Dass jede Menge Leute vor einem den verschwitzten Mund um den Flaschenhals geschlossen hatte. Das Einzige, das zählte, war, die trockene Kehle zu befeuchten. Jenny nahm einen kräftigen Schluck.
»Nicht so viel«, zischte Tanja, »andere wollen auch noch was.« Sie grabschte nach der Flasche.
Markus gab das Zeichen zum Aufbruch. Die meisten stöhnten. Jenny war froh, sich nicht hingesetzt zu haben. Wenn man einmal die Beine auf dem Boden ausstreckte, das Gewicht für ein paar Minuten von den Muskeln nahm, bereute man es hinterher garantiert. Sie würde ihre Beine heute Abend noch früh genug zu spüren bekommen.
Wo führte Markus sie hin? Er hatte offensichtlich nicht vor, mit ihnen zu klettern. Jenny hatte längst die Orientierung verloren. Es wurde jetzt eng in der Schlucht, sie konnten nur hintereinander gehen. Das Wasser, das die Stufen, auf denen sie liefen, mit einem Dunst belegte, hinterließ einen algigen, glitschigen Film auf den Steinen.
Es hätte idyllisch sein können, geradezu märchenhaft, wenn nicht die Schmerzen in den Beinen gewesen wären. Und die im Kopf. Keine Schmerzen, eher ein Druck, der nicht nachlassen wollte. Mehrmals fürchtete Jenny zusammenzuklappen, ihre Beine machten einfach nicht mehr mit. In ihrem Kopf herrschte Leere, und wenn sie nicht gerade ihre volle Konzentration dafür brauchte, sich an den Absperrseilen entlangzuhangeln, fühlte sie sich beinahe zu leicht, um überhaupt noch aufzutreten. Als schwebte ihr Kopf irgendwo in der Luft, ohne Verbindung zu ihrem restlichen Körper. Nur die Schmerzen in ihren Oberschenkeln, die halbstündlich zunahmen, erinnerten sie daran, dass sie einen Körper hatte. Einen Körper, der bald an seine Grenze gekommen war.
Was war, wenn jemand abstürzte? Wenn Markus sich dafür verantworten musste, völlig entkräftete Jugendliche durch unwirtliches Gelände gejagt zu haben? Würde er dann auch ihr die Schuld dafür geben?
Gerade als Jenny diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, bogen sie um die letzte Kurve. Sie stiegen einen sanften Hügel hinauf, das Wasserdröhnen aus der Schlucht wurde mit jedem Schritt leiser.
Die Sonne stand mittlerweile tief am Himmel, trotzdem war es noch warm.
Markus ließ zu einer weiteren Pause anhalten. Die Vorräte waren beinahe aufgebraucht, nur noch ein paar Flaschen enthielten etwas Wasser, zu essen gab es lediglich noch Knäckebrot und Reiswaffeln.
Als Beate ihr eine Waffel entgegenhielt, schüttelte Jenny den Kopf.
»Du musst was essen«, widersprach Beate sanft, »du brauchst jetzt was.«
»Und, Jenny?«, fragte Markus. »Gefällt dir unser Ausflug?«
Jenny antwortete nicht.
»Und was ist mit euch?«, wandte sich Markus an die anderen. »Hat Jenny uns nicht einen atemberaubenden Ausblick beschert? Ursprünglich hatten wir nicht vor, bis hierherzukommen, doch durch den glorreichen Gedanken, die Rucksäcke zu tauschen, war das ja alles kein Problem jetzt, nicht?«
Pauline kam auf Jenny zu. »Ich bring dich um«, zischte sie leise und trat mit ihrem Wanderstiefel auf Jennys Turnschuhe.
»Seid ihr noch fit?«, fragte Markus. Eine rhetorische Frage, auf die er nur Schweigen erntete. Er winkte ab. »Wir haben ja schon fast die Hälfte«, sagte er.
»Die Hälfte?«, sagte Luzia. Es war das erste Mal, dass Jenny sie etwas laut sagen hörte, das nichts mit
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